Vor dem Fest

von | 16.04.2014 | Belletristik, Buchpranger

Stanišićs Roman spielt in Fürstenfelde, einem Dorf in der Uckermark, das sich auf das Annenfest vorbereitet. Dabei wandert der Erzähler zwischen den Ich-Perspektiven der Bewohner hin und her, nimmt deren Sprache an. Die verschiedensten Charaktere kommen zu Wort, tragen ihre Geschichte huckepack: Herr Schramm, der doch nur eine rauchen will. Johannes, der die Glöcknerprüfung absolvieren möchte. Frau Kranz, die malt. Eine Fähe auf Nahrungssuche. Die depressive Frau Schwermuth, die die Vergangenheit im Haus der Heimat betreut. Der stumme Suzi. Und einige mehr.

Meine Mu wiegt doppelt so viel wie mein Pa. Sie wiegt 130 Kilo. Im Frühling kommen 30 Kilo schwere Gedanken dazu. Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Narzissen im Garten, weil im Liegen die dunkeln Wolken circa hundertsechzig Zentimeter weiter weg sind.“

Stanišić skizziert seine Charaktere meisterhaft, legt ihnen ein Gewand aus Ironie und Zynismus um und verschwindet hinter der nächsten Ecke, um zu beobachten, was geschieht. Souverän schenkt er ihnen Raum und gibt ihnen Licht. Wir kennen jeden dieser Charaktere – irgendwoher. Deshalb finden wir so leicht Zugang, denn des Autors Feder zeichnet Tiefgründigkeit, die von einfachen Menschen formuliert werden und dann verschwinden. Wie so oft im Leben. Doch wir als Leser nehmen sie wahr – wie wir Gedankengänge unserer älteren Zeitgenossen bewundern, die ihnen ihre Lebensgeschichten einhauchen, ohne sich dessen allzu oft bewusst zu werden. Dabei frei von Geltungsdrang – als ginge es um ein Backrezept. Und wir verstummen, schließen diesen oder jenen Satz ein. Alltäglichkeit, die mithilfe der Sprache verzaubert.

„In Wilfried Schramms Haushalt finden sich im Schnitt mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen.“

„Vor dem Fest“ vermittelt eine Leichtigkeit und dennoch wurde ich von einer Traurigkeit übermannt. Stille. Man gelangt in ein Dorf, was wie ausgestorben wirkt, kein Mensch verweilt auf der Straße. Es ist langweilig. Altbacken. Erdrückend. Traurig. Diese Assoziationen überrollten mich während der gesamten Lektüre und ich konnte nicht entkommen, gleich wie schnell ich lief. Erst nach Tagen nähere ich mich wieder einigen Sätzen, bin entzückt von den Formulierungen, Gedanken. Warum war ich also traurig? Vermutlich weil der Fährmann tot war. Gleich zu Beginn. Ich mag es nicht, wenn ich Menschen nicht kennenlernen darf, über die so viel Schönes gesagt wird.

„Der lange eiserne Schlag verstummt. Um die Fähe wird es so still, dass sie die Stille schmeckt. Wenn alles still ist, schmeckt die Stille wie alles auf einmal.“

Frau Kranz’ Bilder erfassen all die Details, es scheint, als sei das Buch ein einziges Gemälde – der Leser darf selbst entscheiden, ob ihm der Pinselstrich gefällt. Mittelpunkt in der Gemeinde: ein historisches Archiv im Haus der Heimat. Es stellt Verbindungspunkt zwischen Gegenwart und Vergangenheit dar – es wird sogar eingebrochen. In die Vergangenheit. Oder aus ihr heraus?

Nicole
urwort.com

Vor dem Fest, Saša Stanišić, Luchterhand Literaturverlag, 2014

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4 Kommentare

  1. Avatar

    Eine sehr schöne Rezension zu einem wunderbaren Buch.

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