Trügerische Klarheit

von | 10.09.2017 | Kreativlabor

Illustration: Spurenlaserin Kathi

„Und noch einmal!“, schrie der junge Abenteurer und er und seine Kumpanin stemmten sich mit aller Kraft gegen die starke Eichentür.
„Warte, warte!“, bat Amara und hielt Korell an der Schulter, „wir sind auf der Suche nach einer magischen Substanz, vielleicht kann auch die Tür nur durch Magie geöffnet werden.“ Erwartungsvoll drehte sie sich zum Dritten in ihrer Runde um. „Tu was Toruk!“, befahl sie ihm und bedeutete Korell zur Seite zu treten, während sie es selbst tat.
Toruk stand unsicher hinter ihnen und blickte zwischen dem hellen Ausgang und der stabilen Tür hin und her.
„Nun mach schon!“, blaffte Korell und schubste ihn unsanft in Richtung der Tür.
Toruk stolperte und prallte direkt dagegen. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, fuhr er mit seinen Händen langsam über das Holz. „Die Tür ist nicht magisch, aber dahinter spüre ich Magie“, teilte er seinen Begleitern mit – oder eher seinen Auftraggebern, denn er begleitete sie nur, weil sie keine Magie wirken konnten. „Geh Beiseite!“, schnarrte Korell ihn erneut an, drängelte ihn weg und klopfte gegen das starre Holz. Auch Amara betastete die Tür erneut. Als ihre Finger über die oberste Querstrebe strichen, fühlte sie kleine Vertiefungen. Sie schob Korell aus dem Weg und besah es sich genauer. „Toruk, kennst du diese Schrift?“, fragte sie schließlich.
Der Magier trat näher und strich mit den Fingern über den Fund. Er konzentrierte sich, um jede Nuance zu erkennen. „Da steht ‚Der Rechte links‘ und ‚Nord vor Süd’“, übersetzte er schließlich und trat zurück.
„Was zum Henker soll das nun schon wieder heißen?“, beschwerte sich Korell. Mit dem Rücken zur Tür stieß er genervt mit dem Ellenbogen dagegen.
„Was war das?“, bemerkte Amara und lauschte.
„Was war was?“, fragte Korell verwirrt.
„Da war ein Klacken, wie ein Riegel, der sich gelöst hat! Was hast du gemacht?“, fuhr Amara ihn an.
„Ich? Nur gesto-“, wollte er demonstrieren, doch Toruk hielt seine Hand fest und schob sich an den beiden Abenteurern vorbei.
Murmelnd wiederholte er die eingeritzten Worte und maß die Tür ab, dann klopfte er mittig auf der oberen Hälfte der Tür. Erneut klackte es. Als er unten klopfte, entriegelte sich die Tür komplett. Mit einem lauten Knarren gab sie den Weg in den Raum dahinter frei.
„Gut gemacht“, lobte Amara und klopfte ihm kräftig auf die Schulter, bevor sie die Tür aufstieß und hineinging.
Der Raum war gefüllt von lauter hellen Blasen, die wabernd durch die Luft tanzten und sich beliebig teilten und vereinten.
„Geschafft“, entfuhr es Amara aufgeregt. Sogleich stellte sie ihren Rucksack ab und holte eine niedrige Schale daraus hervor. Beim Aufstehen stieß sie sie Toruk in die Rippen. „Tu, wozu wir dich mitgebracht haben!“, befahl sie harsch und ging weiter in den Raum hinein.
„Seid vorsichtig, Amara!“, warnte der Magier, „sie wissen, wenn nicht-Magier sich an ihnen vergehen wollen!“
„Papperlapapp. Ich lasse mir doch nicht die Belohnung entgehen, wenn wir zurückkommen und die Prinzessin heilen!“, widersprach sie und stellte sich direkt unter die Blasen.
„Ich bleibe hier hinten und halte Wache“, beschloss Korell, ein leichtes Zittern in der Stimme.
„Weichei“, kommentierte Amara lediglich, als Toruk sich vor sie stellte. Sie hielt die Schale unter Toruks ausgestreckte Hand. „Nun mach schon!“, drängte sie ihn.
„Ich will nicht, dass sie Euch trifft, Amara“, versuchte es Toruk erneut.
„Ich weiß, wie man einen Tropfen auffängt!“, fuhr sie ihn finster an.
Mit einem Seufzen berührte Toruk die Blase und schon zerplatzte sie und floss in die Schale. In ihrem Jubel machte Amara einen Schritt zurück, doch dort wartete bereits eine Blase auf sie. Sie ließ die Schale fallen und ihr Schrei hallte durch den weiten Raum. Mit der Rechten versuchte sie die geplatzte Blase wegzuwischen, doch verbrannte sich stattdessen und schrie nur noch lauter. Korell stürmte ihr zur Hilfe und schob Toruk unwirsch Beiseite. In seiner Hast traf sein Fuß die Schale und die Flüssigkeit spritzte sein Bein hinauf. Seine Schreie übertönten Amaras, als er sie beide zu Boden riss. Sie wälzten sich über den Boden und versuchten die ätzende Flüssigkeit abzustreifen. Über ihnen sammelten sich die Blasen und hielten schließlich komplett inne. Dann flossen sie auf die beiden herab.
Toruk betrachtete das Schauspiel von weitem. Hätten sie ihn besser behandelt, so hätte er sie deutlicher gewarnt, aber so tat es ihm nicht Leid, sie zu opfern; denn das war es, was diese Magie benötigte, um mächtig zu werden.
Als die magische Essenz sich durch die Knochen gefressen hatte, formten sich erneut Blasen, die unbekümmert nach oben schwebten. Doch nun waren sie von rotschimmernder Schwärze, nun würde der Trank auch tatsächlich wirken. Nun würde er es sein, der die Prinzessin rettete. Ohne Hast hob er die Schale auf und streckte seine Hand nach einer vorbeiwabernden Blase aus. Mit einem satten Platschen landete sie in dem Gefäß und für einen kurzen Moment erblickte er Amaras und Korells schmerzverzehrtes, leeres Antlitz auf der ruhigen Oberfläche.

Anne Zandt / PoiSonPaiNter
Illustration: Spurenlaserin Kathi

Die Autorin:

Neben dem Bloggen über verschiedenste Themen (z.B. Film/Buch & Konzert/Festival Reviews) auf ihrem Blog randompoison.wordpress.com, veröffentlicht PoiSonPaiNter / Anne Zandt auch (Kurz-)Geschichten, die meist der Phantastik zuzuordnen sind. Gelegentlich trägt sie ein paar davon auf einer Lesebühne vor. Im Bücherstadt Kurier sind bereits zwei weitere ihrer Geschichten erschienen: „Feenkleid“ und „Die Krippe„.

Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 26.

Feenkleid

Adventskalender 2016: Türchen 2

 

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