Live aus der Bücherstadt: Akram El-Bahay im Literarischen Duett

von | 19.12.2017 | Buchpranger

Willkommen zum allerersten bücherstädtischen „Literarischen Duett“. Oder doch eher Duell? Zeilenschwimmerin Ronja und Buchstaplerin Maike treffen sich zu einem verbalen Schlagabtausch. Und welches Buch könnte besser passen als „Bücherstadt“, der Auftakt zur neuen Fantasy-Trilogie von Akram El-Bahay?

BM: Wir kommen wohl einfach beide nicht um ein Buch herum, das diesen Namen trägt.

ZR: Nein, das ist schließlich geradezu eine Herausforderung! En garde!

BM: En garde? Du nimmst es mit dem Literarischen Duell ganz schön genau, oder?

ZR: Selbstverständlich!

BM: … jedenfalls, sonst hat dieses Buch nun wirklich gar nichts mit unserem Bücherstadt Kurier zu tun. Trotzdem ein toller Zufall, oder? Lass uns unserem Publikum einmal näherbringen, worum es bei „Bücherstadt: Die Bibliothek der flüsternden Schatten“ eigentlich geht.

ZR: Gute Idee. Wir begleiten Samir oder kurz Sam, der nach einem schweren Verlust seine Diebesgilde verlässt, um Palastwache zu werden. Seine Aufgabe ist es, das Tor zur Bücherstadt zu bewachen – eine unterirdische Bibliothek, groß wie eine Stadt und voll unbezahlbarer Schätze. Niemand darf dort hindurchgehen, außer dem König und seiner Beraterin, Sabah. Doch seine Arbeit ist alles andere als ruhig. Kaum hat Samir seinen Dienst angetreten, dringen geflügelte Gestalten – Asfura, die eigentlich nur ein Mythos sein sollten – in den Palast ein und ermorden mehrere Menschen. Doch als Sam sie auf einem Turm des Palasts stellt und die Gelegenheit hat, eine von ihnen zu töten, schreitet eine der Palastdienerinnen, Kani, ein. Sie spricht die Sprache der Asfura und enthüllt Sam Dinge, von denen er nichts geahnt hatte: Die Wesen scheinen alle aus den Büchern gekommen zu sein.

BM: Wie dramatisch. Jetzt aber mal Butter bei die Fische. Du vergisst den wichtigsten Punkt: Sam kann nicht lesen. In einer Stadtwache und Bibliothek ist er also ein doppelter Außenseiter und Geheimnishüter. Und Geschichten über Außenseiter*innen mit Geheimnissen funktionieren immer.

ZR: Stimmt, aber das ist ja nichts Schlechtes. Und hier gibt es ja gleich zwei: Auch Kani ist nicht, was sie zu sein scheint … Es ist daher nicht überraschend, dass beide im Laufe der Geschichte und in den ruhigeren Momenten des Abenteuers zueinander finden.

BM: Hm, ich hätte auf das romantische Geplänkel komplett verzichten können. So, wie sich die Beziehung von Sam und Kani ausrollt, habe ich das Gefühl, hier wird strikt nach Schema F vorgegangen. Natürlich haben beide Figuren auch originelle Charaktereigenschaften und Hintergrundgeschichten, die sie interessant machen. Kani etwa umgibt ein Geheimnis und ist weit entfernt davon, ein zartes Prinzesschen zu sein, das gerettet werden muss. Aber letztendlich ähnelt die Konstellation „Dieb mit gutem Herzen und schöne, mysteriöse, mutterlose Frau“ so manchem Disneyfilm.

ZR: Sprichst du von Aladdin? Da kann ich nicht mitreden. Aber Robin Hood hat ja auch seine adlige Geliebte. Diese Konstellation vom Dieb mit gutem Herzen und der mysteriösen Frau, wie du es so schön ausgedrückt hast, scheint durchaus schon ein älteres Motiv zu sein. Das führt jetzt ein wenig in die Abgründe meiner Filmkenntnisse, aber „Das Wirtshaus im Spessart“ mit Lilo Pulver (1957) wäre auch noch so ein Fall.

BM: Du hast mich ertappt, ich bin mehr Team Kinderfilm. „Aladdin“ (1992): ein Dieb, der sein gutes Herz beweist und die abenteuerlustige Jasmin, die Tochter des Sultans, für sich gewinnt. Oder die neue Rapunzel-Verfilmung (2010): ein Dieb, der sein gutes Herz beweist, und die abenteuerlustige Rapunzel für sich gewinnt. Oder „Anastasia“ (1997): ein Hochstapler, der sein gutes Herz beweist und Anastasia, die abenteuerlustige verwaiste Zarentochter, für sich gewinnt. Und ja, Robin Hood ganz genauso: ein Dieb, der sein gutes Herz …

ZR: Wir haben es begriffen, Maike.

BM: Um also nochmal auf Aladdin zurückzukommen, oder na ja, eben nicht: El-Bahay konstruiert eine Welt, die genau dadurch spannend wird, dass der Horizont der Leser*innen erweitert wird. Indem er Erzähltraditionen und Sagenfiguren der arabischen Welt zu Hauptakteur*innen macht, sehen wir auch mal anderes, als die immer gleichen westlichen Fantasyelemente.

ZR: Da stimme ich dir zu. Es ist zwar nichts gegen die guten Elfen, Zentauren und Drachen einzuwenden, aber etwas Abwechslung macht alles interessanter. Wenn noch dazu, wie du sagst, der Horizont der Leser*innen erweitert wird, ist es umso besser. Mir jedenfalls geht es so. Bei den phantastischen Wesen, die vorkommen, habe ich mich zum Beispiel häufig gefragt, was davon rein auf die Phantasie des Autors zurückzuführen ist und was auf arabische Sagen und Legenden. Mir fehlt in der Hinsicht einfach die Kenntnis.

BM: Ich kenne mich leider auch nicht so gut aus, wie ich es mir wünsche. Den Iblis gibt es jedenfalls, genau wie geflügelte Wesen. Vielleicht bringen die Folgebände Licht ins Dunkel? Ist das aber das Allerwichtigste? Wir fragen doch auch nicht, wie genau ein*e Autor*in sich an christliche Sagenfiguren hält, wenn diese in Fantasywelten einfließen. Was ich sagen will: Es ist schön, als Zentrum der fiktiven Welt eben nicht „unsere“ Wesen zu haben, sondern etwas Neues zu entdecken.

ZR: Sehr guter Hinweis, Maike. Lass uns trotzdem noch etwas bei den Fabelwesen bleiben. Wenn ich mich recht erinnere, hast du da einen kleinen Liebling …

BM: Ja! Mein heimlicher Star des Buches ist der Nushishan, oder Pferdemensch, namens Shagyra.

ZR: Weshalb denn eigentlich?

BM: Wohl aus emotionalen Gründen. Mehr als bei den Asfura konnte ich mit ihm mitfühlen, nachdem er aus der literarischen Welt in die „echte“ fiel. Überhaupt ist es, als würde man ihm beim Aufwachsen zusehen. Das verängstigte, unbeholfene Wesen, das seine Kräfte entdeckt, sie entwickelt, uns überrascht… damit kriegt man mich mehr als mit Romanzen.

ZR: Dir ist bewusst, dass du gerade den Autor*innen der ganzen Welt (jedenfalls allen, die Deutsch verstehen) deinen Schwachpunkt verraten hast, oder?

BM: Nur einen von vielen, Ronja. Das ist jetzt kein Geheimrezept für das perfekte Buch.

ZR: Jedenfalls bringt mich der Nushishan noch einmal zurück zu den Sagen und Mythen: Menschen mit tierischen Unterleibern gibt es viele. In europäischen, speziell antiken griechischen oder römischen Sagen, etwa Zentauren, Faune und Satyre. Die letzteren beiden sind (wenigstens äußerlich) sehr ähnlich zum Nushishan, sie werden meist mit Esels-, Pferde- oder Ziegenbeinen dargestellt. Außerdem sind auch sie ziemlich lebensfroh. Das war so ein Punkt, an dem ich mich fragte, auf welchen Kulturkreis El-Bahay hier zurückgreift. Wenn man bedenkt, wie viele Phantasiewesen und Monster sich Menschen schon ausgedacht haben, und wie viele wir auch aus anderen Kulturen importieren, ist es natürlich auch nicht auszuschließen, dass diese Überschneidung ohnehin schon seit Langem existiert.

BM: Mischwesen gibt es in so gut wie jeder Mythologie, denk nur an ägyptische Gött*innen oder die griechische Sagenwelt. Was ich mich eher frage, ist, ob wir nur einfach nicht alle Hinweise entdecken, weil wir mit eurozentrischen Mythen aufgewachsen sind?

ZR: Davon ist auszugehen. Aber das führt an dieser Stelle vielleicht zu weit. Wir halten also fest: Der Nushishan ist durchaus herzerwärmend. Eine wirkliche Lieblingsfigur habe ich allerdings wohl nicht gefunden. In Sachen Figuren würde ich aber gern etwas Anderes ansprechen: Fantasy-Romanen wird ja häufig vorgeworfen, nicht genügend weibliche Figuren abseits „der Dame in Nöten“ zu zeigen. Wie sieht das für dich in „Bücherstadt“ aus?

BM: Ach herrje, da könnte ich stundenlang lamentieren. Wobei der Vorwurf ja häufig nur High Fantasy gemacht wird, die von Männern geschrieben wird. In letzter Zeit entdecke ich eine Tendenz zu viel diverseren Figuren und eben auch komplexeren Frauenfiguren. Um hier nicht zu viel vorweg zu nehmen: Kani und Sabah sind eindeutig starke Frauen mit eigener Agenda, aber gerade erstere definiert sich für meinen Geschmack viel zu aufopfernd über die Ideale ihres Vaters, statt ihr eigenes Ding durchzuziehen. Es braucht nicht immer das entführte Fräulein, das auf ihren Retter wartet, um mir ein Augenrollen zu entlocken. Aber vielleicht stört das hier nur mich, weil ich mittlerweile sehr sensibel für so etwas geworden bin. Lass uns das Thema wechseln, bevor uns die Zuschauer*innen weglaufen.

ZR: Einverstanden. Was schlägst du vor? Gibt es überhaupt noch ein gutes Blatt, ähm, Haar an diesem Buch?

BM: Du tust so, als würde ich nur meckern, Ronja. Also Folgendes: Das Motiv, dass Figuren aus Büchern hinauskommen und nun in der wirklichen Welt wandeln, ist kein neues, zugegeben. Aber in dieser Form habe ich das noch nicht erlebt. Wie siehst du das?

ZR: Am ehesten würde ich sagen, stehe ich dem neutral gegenüber. Es hat mich nicht direkt überrascht, allerdings gibt es in meiner persönlichen Lesehistorie gar nicht allzu viele Bücher, die dieses Motiv nutzen. Außerdem ist es ein deutlich anderer Ansatz als etwa bei Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie. Für mich kommt es in der Hinsicht vor allem darauf an, wie sich die Regeln für das Aus-Dem-Buch-Kommen in den Folgebänden genau gestalten werden.

BM: Stimmt. Wie ich schon über Shagyra sagte und nochmal zusammenfasse: Hier verhält es sich wie ein Bildungsroman im Kleinen. Wie auch wir uns beim Eintauchen in ein Buch mit der Welt vertraut machen müssen, so geht es bei El-Bahay den Sagengestalten auch. Sie orientieren sich, lernen, du weißt schon. Ich hoffe ja auch, in den folgenden Bänden lernen wir mehr über die „Regeln“, wie du so schön sagst. Bisher ist alles etwas mysteriös …

ZR: Aber ein schöner Vergleich, dieses doppelte „vertraut werden mit der Welt“. Eine Welt lesen …

BM: Vielleicht liegt das auch an dem Setting? Eine unterirdische Bibliothek, so groß und alt wie eine Metropole, voller Geheimnisse und Gefahren … Für mich ein toller literarischer Ort – im doppelten Sinn. Und auch die Welt an sich ist realistisch angelegt: Ich sehe sie als eine Art Spiegelbild einer Renaissancestadt. Hierarchien und Diskriminierungen ähneln weitestgehend unserer Welt, etwa wenn es um das Thema Rassismus geht.

ZR: Die Gesellschaftsstrukturen bieten eindeutig vielerlei Möglichkeiten. Unterschiedliche soziale Schichten, verschiedene Kulturen, Verbrechergilden, Patriarchat, Rassismus … Das enthält einiges an „sozialem Sprengstoff“, wie es so schön heißt. Gleichzeitig ist es aber auch keine grundlegend andere gesellschaftliche Struktur als bei anderen Fantasy-Romanen. Für die folgenden Bände von „Bücherstadt“ würde ich es auf jeden Fall begrüßen, wenn die Strukturen noch tiefer beleuchtet würden. Eine vielseitige, ausdifferenzierte Welt steigert mein Lesevergnügen meistens sehr.

BM: Wer Fantasy lesen möchte, freut sich über Genretypisches. Das würde ich nicht zu eng sehen. Das Worldbuilding kommt wahrscheinlich mit der Zeit, und ich persönlich mag auch nicht mit „Rahmeninformation“ erschlagen werden. El-Bahay liefert auf jeden Fall etwas für Genrefans ab: Der Spannungsbogen baut sich rasant auf und bleibt konstant. Action, auflockernde amüsante Szenen, politische Intrigen…

ZR: Der Spaß darf natürlich nicht verloren gehen, da gebe ich dir absolut Recht. Und Spaß hatte ich beim Lesen durchaus.

BM: Da fällt mir ein: Ronja, du hast ja bereits „Henriette und der Traumdieb“ von El-Bahay gelesen. Hält „Bücherstadt“ da mit?

ZR: „Henriette und der Traumdieb“ habe ich sehr gern gelesen. Genauso wie bei „Bücherstadt“ ist es spannend und hat viele phantasievolle Elemente und Anklänge an das, was man umgangssprachlich „orientalisch“ nennt. Allerdings erscheint mir „Bücherstadt“ ein paar mehr klischeehafte Entwicklungen zu nutzen. Das würde ich allerdings nicht übermäßig negativ bewerten. Insgesamt stimme ich deiner Einschätzung zu, dass Genrefans sicherlich Gefallen an „Bücherstadt“ finden.

BM: Dann sind wir uns da ja einig. Ich finde übrigens immer wichtig, zu berücksichtigen aus welcher Perspektive Klischees verarbeitet werden. Stichwort Repräsentation und Identifikation: Ich nehme an, El-Bahay weiß, was er tut und für wen.

ZR: Gut, dass du das sagst, Zielgruppe – beim Lesen war ich nämlich etwas überrascht.

BM: Wovon?

ZR: Auf Grund des Genres und des Covers habe ich automatisch angenommen, dass sich der Roman an die „übliche“ Zielgruppe richtet, will sagen Jugendliche ab 12 Jahren. Es gibt keinen Grund, warum sie dieses Buch nicht lesen sollten, allerdings gibt es hin und wieder Anspielungen, die sich an ein älteres Publikum wenden, und Samir selbst ist auch kein Jugendlicher mehr.

BM: Wirklich? Ich hab das Cover eher als All-Ager gesehen. So unterscheiden sich die Erwartungen und Erfahrungen.

ZR: Tun sie das nicht immer?

BM: Da hast du auch wieder Recht, und heute war das nicht anders. Also, was sagst du? „Bücherstadt“ – eine Empfehlung mit Einschränkungen?

ZR: Empfehlung mit Einschränkung klingt negativer, als es wohl gemeint ist. Gut, ganz knapp gesagt: Wirklich solide Fantasy mit gutem Unterhaltungswert.

BM: Ich sage: Für Genrefans definitiv ein Blick über den Tellerrand, aber keine Expedition aus der Komfortzone hinaus.

Und damit ist unsere Sendezeit vorbei! Wir hoffen, unser Publikum konnte einen Einblick in unser heutiges Werk erhalten und schaltet auch das nächste Mal wieder ein, wenn es heißt: das Literarische Duett in der Bücherstadt!

Die Rezension zum Buch „Henriette und der Traumdieb“ könnt ihr hier lesen.

Bücherstadt: Die Bibliothek der flüsternden Schatten. Akram El-Bahay. Bastei Lübbe. 2017.

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