Leben

von | 06.11.2014 | Belletristik, Buchpranger

Was bringt einen Menschen dazu, sich das Leben zu nehmen? In seinem aktuellen Werk „Koala“ versucht Lukas Bärfuss eine Antwort auf diese Frage zu finden, zu ergründen, weshalb sich sein Bruder für den Freitod entschied. – Von Zeichensetzerin Alexa

„Im Laufe der Wochen und Monate blickte ich in viele lange Gesichter und schaute in viele leere Blicke, und ich bemerkte, wie sich in den Zimmern, wann immer der Selbstmord zur Sprache kam, ein Schatten ausbreitete und auf die Menschen legte, ihre Stimmen bedrückte und die Blicke verfinsterte.“

Selbstmord gehört zu den Themen, die ungern besprochen werden, möglicherweise weil man nicht damit umzugehen weiß. In den Medien spricht man im Zusammenhang mit Artikeln über Suizid von einem Werther-Effekt, doch kann ein Text allein jemanden dazu verleiten, Selbstmord zu begehen? Hat sich der Betroffene nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt dafür entschieden?

Mein Tod gehört mir“ heißt ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, ein Plädoyer für das Recht, selbst über den Tod bestimmen zu dürfen. Anfang des Jahres stand das Thema „Sterbehilfe“ groß in den Medien. Es wurde heiß diskutiert, ob nicht auch Kinder über ihren Tod entscheiden dürften. Pro und Contra wurden aufgeführt, Interviews mit „Fachleuten“ präsentiert. Dabei scheint ein ganz wichtiger Punkt in den Hintergrund geraten zu sein: Wer, wenn nicht wir selbst, hat denn das Recht, über das eigene Leben und den eigenen Tod zu entscheiden? Wir leben in einem System, in dem wir uns anpassen müssen, in dem Regeln, Gesetzte, Moral und Wertvorstellungen vorgegeben werden, und wenn wir uns wehren, so bedeutet es noch lange nicht, dass unsere Stimmen erhört werden. Wenn wir schon nicht über unser Leben bestimmen dürfen, dann doch wenigstens über den Tod?

Romane wie „Koala“ kommen da zur rechten Zeit. Denn sie zeigen, dass es denen, die Suizid begehen wollen, egal ist, was andere denken. Sie entscheiden sich, weil sie es können – und gehen einfach. Dabei hinterlassen sie Fragen, werfen die Moralvorstellung anderer durcheinander. Warum tut einer so etwas? Warum begeht er Selbstmord? Was ist der Auslöser? Bärfuss überlegt und recherchiert, sucht die Antworten in der Literatur, bei den Römern und Griechen.

Schließlich weitet er seine Recherchen mit der Kolonialgeschichte Australiens aus, welche den Hauptteil des Buches einnimmt. In dieser bezieht sich Bärfuss auf die Geschichte des Koalas. Seine vorigen Ausführungen über seinen Bruder lassen auf Gemeinsamkeiten schließen, nicht zuletzt wegen seines Spitznamens Koala. Es scheint, als sei sein Bruder wie der Koala, ein Faulpelz, der nur für sich dahinlebt, nichts erreicht, nichts bewegt, sich nicht anpassen will oder kann, keine Verantwortung übernehmen will. Somit könnte man meinen, es sei purer Egoismus, das eigene Leben zu beenden, sich all dem zu entziehen, womit andere tagtäglich zu kämpfen haben. Und doch formuliert Bärfuss es so treffend, dass ich nach dem Lesen dieser Zeilen erst einmal schlucken und wie erstarrt aus dem Fenster blicken musste:

„Und ich begriff auf einmal, weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden. Er war nicht wie eine Krankheit ansteckend, er war überzeugend wie ein schlüssiges Argument. Es war eine Lüge zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand, im Gegenteil. Jeder verstand sie nur zu gut. Denn die Frage lautete nicht, warum hat er sich umgebracht? Die Frage lautete: Warum seid ihr noch am Leben?“

Es sind Zeilen, die man nicht vergisst, an die man denken muss, wenn es einem schlecht geht. Bärfuss rüttelt einen mit seinen klaren, treffsicheren Worten wach, äußert Gedanken, ganz ohne Scham und Unsicherheit, spricht über den Tod wie auch über Suizid als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Und nicht selten ertappt man sich dabei, seinen Vergleichen und Ausführungen zuzustimmen – der vom Aussterben bedrohte Koala und der Selbstmörder, die Faulen und die Fleißigen, die Toten und die Lebenden. Am Ende ist all das nicht wichtig, es ist die Erkenntnis, die zählt: Dass letztendlich jeder von uns eine Wahl hat.

Koala. Lukas Bärfuss. Wallstein Verlag. 2014.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    Liebe Alexa,
    ich habe ja ein wenig gehadert mit dem „Koala“. Wenn ich nun aber den Satz sehe, den Du zitiert hast, erst einmal so lese, ganz isoliert von übrigen Inhalt, dann bekommt die Lektüre doch noch einmal eine andere Färbung. Ob meine Deuutng des Romans nun doch runder wird, das überlege ich mir jetzt auf einem Spaziergang :-).
    Einen schönen Sonntag wünscht Claudia

    Antworten
    • Bücherstadt Kurier

      Liebe Claudia,
      es freut mich, dass dir das Zitat gefallen hat. Magst du mir mitteilen, ob du während des Spaziergangs zu einem Ergebnis gekommen bist? Ich bin gespannt!
      Dir auch einen schönen Rest-Sonntag,
      Alexa

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