Krieg und die Welt

von | 29.05.2015 | Belletristik, Buchpranger

Der vierteilige historische Roman des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi (1828-1910) erschien 1869 und erlangte schon zu seinen Lebzeiten Weltruhm. Heute zählt der Epos, der im russischen Original den weitaus passenderen Titel „Krieg und die Welt“ trägt, zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur. 

Die Napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1812 bilden Rahmen und historische Grundlage, auf welche die Gesellschaft des russischen Adels, einzelne Charaktere und Herzensempfindungen nacheinander Schicht für Schicht aufeinander gelegt werden, bis ein imposantes Portrait entsteht.

1805. Die Familien Rostow und Bolkonski bilden den Kern des Romans. Gesellschaften, Bälle, Intrigen unterhalten die obere Schicht. Die Tochter Natascha Rostow hat im zarten Alter von vierzehn Jahren noch keine Liebe erfahren, kokettiert mit Heiratsanwärtern und strahlt eine Lebensfrische und Herzensgüte aus, die sie aufgrund des Kontrastes zu den anderen Figuren schon früh zu einem der Hauptcharaktere avancieren lässt. Ihre Cousine Sonja wurde als Kind ins Haus aufgenommen und ist ihre untrennbar zweite Hälfte. Beide versprechen sie sich jungen Männern, die nun in den Krieg ziehen – die Schlacht bei Austerlitz.
Der junge Fürst Andrej Bolkonski ist in seiner Ehe mit seiner schwangeren Frau Lisa nicht glücklich und zieht ebenso in den Krieg. Andrej und sein noch orientierungsloser Freund Pierre Besuchow zeigen schon zu Beginn, dass sie sich aufgrund des Tiefgangs und der Andersartigkeit ihrer Gedankengänge vom oberflächlichen Adelsmileu abheben.

„Was recht und was unrecht ist, das zu beurteilen ist dem Menschen nicht gegeben. Die Menschen haben von jeher geirrt und werden immer irren, und in keinem Punkt mehr als in Bezug auf das, was sie für recht und unrecht halten.“

Graf Pierre Besuchow hat geerbt und heiratet die schöne, jedoch substanzlose Hélène Kuragina, die der Inbegriff des oberflächlichen, intriganten Adels zu symbolisieren scheint. Schwer verletzt und von Napoleon begnadigt kehrt Andrej heim und erlebt die Geburt seines Sohnes mit, während seine Frau stirbt. Fortan lebt er zurückgezogen und widmet sich den Gütern seines Vaters, auf welchem er Natascha begegnet.
1809. Andrej hält um die Hand der sechzehnjährigen Natascha an, jedoch erlegt sein Vater ihnen eine Frist von einem Jahr bis zur Hochzeit auf. Währenddessen trennt sich Pierre von seiner Frau und tritt in eine Freimaurerloge ein. Hélènes Bruder Anatol umgarnt Natascha und stiftet sie zu einer Entführung an, die im letzten Moment verhindert werden kann und auch zur Auflösung der Verlobung mit Andrej führt. Natascha wird schwer krank und gewinnt in ihrer Trauer und Reue an geistiger Reife.
1812. Andrej und Pierre erleben die Schlacht bei Borodino mit, Napoleons Russlandfeldzug. Die Franzosen besetzen das menschenleere Moskau und glauben gesiegt zu haben. Jedoch sollte man nie den Tag vor dem Abend loben.

„Voll schweren Leids und mit angsterfülltem Herzen, wie immer in einer größeren Menschenmenge, ging Natascha in ihrem lilaseidenen, mit schwarzen Spitzen besetzten Kleid dahin, so wie eben Frauen zu gehen verstehen: um so ruhiger und stolzer, je mehr ihnen Schmerz und Scham das Herz zerreißen.“

Ungefähr 250 Charaktere sammeln sich in diesem Jahrhundertwerk, die allesamt zu einem Gemälde beitragen und kaum einzeln zu benennen sind – dennoch die Handlungsstränge verweben und zeigen, dass alles miteinander verbunden ist. Figuren, die sich annähern und entfernen, begegnen sich später in wiederum anderer Formation wieder, die Karten werden stets neu gemischt, schnell zeigt sich, wer mit der Zeit wächst und wer stehen bleibt. „Krieg und die Welt“ ist insofern weit passender, da von Frieden nie die Rede sein kann – weder in der Politik, noch in den Familien.
Wenn Atem geholt werden kann, bricht an anderer Stelle ein Zwist aus. Vielmehr wird die Historie attraktiv eingebettet, selten sind Schlachten so spannend geschrieben worden, wie es Tolstoi vermag. Ob nun das Seelenleben der Mutter Rostow um das Leben ihrer Söhne bangt oder der überaus menschlich dargestellte Zar Alexander I. vom Verhalten des verbrüderten Napoleons enttäuscht ist – jede Figur erhält ihre Aufmerksamkeit von einem objektiven Erzähler, und das von vielen verschiedenen Perspektiven. Die Gesellschaft wird unter die Lupe genommen, idyllische Kinderszenen treffen auf ein mörderisches Schlachtfeld, Ideale werden verkörpert und zerstört. In der Tat staunt man über die dunkle Färbung, die der Tod aufgrund seiner häufigen Besuche verleiht – dabei wohnt in aller Zerstörung, ob physischer oder psychischer Natur, ein Neubeginn inne.

„… als er plötzlich zu dem Bewußtsein gekommen war, daß Reichtum, Macht, Leben, kurz alles, was die Menschen mit solchem Eifer erwerben und zu bewahren suchen, wenn es überhaupt einen Wert hat, nur insofern einen Wert besitzt, als ein Genuß darin liegt, dieses alles von sich zu werfen.“

Den Berg von 1290 Seiten zu besteigen erfordert ein gewisses Maß an Motivation, jedoch fliegen die Zeilen nur so dahin, der Lesefluss ist geschwind, der Leser wird in Atem gehalten, jedes Detail scheint von großer Wichtigkeit. Es steckt darin eine ungeheure Tiefe auf Ebenen der Politik, Philosophie, Religion, es spricht schlichtweg viel Weisheit heraus, die in all den Jahren nicht an Aktualität verloren hat. Tolstoi hat eine Schatzkiste geschaffen, aus der man sich auch lange Zeit später noch ergötzen und stets Neues ziehen kann. Thomas Mann sagte über diesen Epos: „Die erzählerische Macht seines Werkes ist ohnegleichen.“ – Dem ist schlichtweg nichts hinzuzufügen!

Nicole
urwort.com

Krieg und Frieden, Lew Tolstoi, Aufbau, 2010

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

3 Kommentare

  1. Avatar

    Neulich im Theater gesehen. Reicht mir fürs Erste. Bei mir ist die Zeit der dicken Schinken und rusischen Klassiker leider vorbei. Zeitmangel…

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    • Bücherstadt Kurier

      Verständlich! Ich lese derzeit auch nur „dünne Literatur“. Aber auch Kurzgeschichten und Novellen haben da viel zu bieten: Bulgakows „Arztgeschichten“ oder Erzählungen von Puschkin z.B. Es muss nicht immer „dicke Literatur“ sein. Danke für den Kommentar und liebe Grüße! (Alexa)

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      • Avatar

        Ich habe mich durch Dostojewskis Werk gelesen (nicht vollständig, aber mehr als nur die Klassikers) und von Tolstoi einen feinen Erzählband. Danke für deine Tipps!

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