Wie heute – und jeden Tag

von | 23.05.2016 | Belletristik, Buchpranger

„Jeder Tag wie heute“ heißt der Debütroman von Ron Segal, erschienen 2014 im Wallstein Verlag. Bereits beim Betrachten des Covers wird ein unstimmiges Gefühl hervorgerufen: Die kaputten Saiten der Harfe sowie die Wahl von Rot und Schwarz als Leitfarben, erwecken den Eindruck, dass sich viel mehr hinter dem Titel verbirgt als es der Anschein erweckt. – Von Zeichensetzerin Alexa

Jeder Tag wie heuteErinnerungen festhalten

Adam Schumacher kehrt als Holocaust-Überlebender und israelischer Schriftsteller nach Deutschland zurück. Hier will er seine Erinnerungen für ein Literaturmagazin niederschreiben. Doch schon bald muss er merken, wie ihn sein Gedächtnis immer mehr im Stich lässt. Er vergisst Dinge, die er bereits erledigt oder gesagt hat. Seine Erinnerungen verblassen stetig und vermischen sich mit seiner Fantasie. Hat er das wirklich erlebt oder spielt ihm sein Gedächtnis einen Streich? Die Zeit drängt – das spürt Adam, und deshalb bemüht er sich, seine Lebensgeschichte und jene seiner Frau Bella für die Nachwelt aufzuschreiben.

„Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen.“ (S. 10)

Der Aufbau des Romans in Prolog, Kapitel und Epilog hat den Anschein einer strukturierten Geschichte. Adams Art, seine Geschichte zu erzählen, gleicht allerdings keiner Dramaturgie mit Anfang-Mitte-Ende. Vielmehr setzt sich der nur 137 Seiten lange Roman wie ein literarisches Puzzle zusammen: Erinnerungen und gegenwärtige Handlungen wechseln sich ab, fließen nicht selten ineinander und ergeben erst zum Ende hin ein schwach erkennbares Bild. Aber selbst dann bleibt die eine oder andere Frage ungelöst, das Puzzle hat einige Lücken, wie jene im Gedächtnis eines an Alzheimer erkrankten Mannes. Diese Lücken fordern geradezu auf, eigenständig weiterzudenken und im Roman zurückzublättern. Für die Leser bleibt das Gefühl zurück, etwas übersehen zu haben; hier eine Bemerkung, da eine Andeutung. Was bleibt, ist das Bedürfnis, den Roman abermals zu lesen und zwischen die Zeilen zu blicken.

Fiktion oder Realität?

Im Prolog bereitet der Erzähler seine Leser auf eine Geschichte vor, die auf realen Ereignissen beruht. Doch nur wenige Zeilen später gibt er zu: „Auch in meinem Fall sagten so einige, man könne nicht wissen, was mir geschehen sei, denn die Zeugenaussagen seien nicht weniger ‚unscharf‘ als Hunderttausende Bilder von Göttern und Ungeheuern, und sehr wahrscheinlich hätte ich eine imaginäre Wirklichkeit erlebt, […].“ (S. 8) Die Frage, die sich hierbei stellt, ist weniger, ob die Geschichte tatsächlich so geschehen ist, sondern vielmehr, inwieweit sie mit fiktiven Ereignissen ausgeschmückt wurde – und ob die „unscharfen“ Zeugenaussagen nicht etwa auf die subjektive Wahrnehmung zurückzuführen sind.

Die Kategorie „Roman“ lässt jedoch ausreichend Spielraum, sowohl für den Autor als auch für die Interpretation der Leser. Letztendlich entscheidet jeder für sich, was er glaubt oder glaubt zu wissen oder für sich mitnehmen will. Der Roman bietet den ein oder anderen interessanten Gedanken, der sich – unabhängig vom Wahrheitsanspruch – als Impuls zum Weiterdenken aufgreifen lässt.

Ausgeschmückt: Legenden, Märchen, Lyrik

Wenn es darum geht, Erklärungen oder Beschreibungen zu finden, bedient sich der Autor ausgewählter Legenden, Mythen und Märchen. Es sind Geschichten in Geschichten, die diesen Roman schmücken, Bilder erzeugen, wo sonst Farbe gefehlt hätte oder gar ein wenig Leben. So finden sich hier unter anderem Andeutungen auf die Gebrüder Grimm und deren Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“: Damit ein Wunder geschehen kann, muss Bella zu einem Goldfisch sprechen. Tatsächlich scheint dieser ihren Wunsch erhört zu haben. Denn nur wenige Tage später erhält sie eine kleine Harfe. Diese Intertextualität sowie die Verwendung von lyrischen Versen ermöglichen einen anderen Zugang zum Werk und dessen Thematik.

Holocaust – Reflexion?

Die Holocaust-Erinnerungskultur erfolgt unter Berücksichtigung unterschiedlicher Medien. Viele Bücher und Filme erzählen Geschichten von Juden, die dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind. Doch während Werke wie „Komödie in Moll“ (Hans Keilson) und „Jeder stirbt für sich allein“ (Hans Fallada) den Holocaust konkret thematisieren, schwingt dieser in „Jeder Tag wie heute“ nur unterschwellig mit. Im Zentrum steht hier die Lebens- und Liebesgeschichte Adams. Dass er Jude ist, spielt für ihn nur eine zweitrangige Rolle: „Ich versuche sicher nicht, meiner Identität oder meiner Vergangenheit zu entfliehen, aber was denn – wenn ich nun kein Jude wäre, wäre ich dann kein wichtiger Schriftsteller?“ (S. 88)

Unvergessen

„Jeder Tag wie heute“ ist ein ruhiger Roman, voller Symbolik und tiefgründiger Gedanken. Auf nur 137 Seiten erschafft Ron Segal eine Welt, die zwischen Realität und Fiktion schwingt. Eine, in der Märchen und Mythen ebenso Bedeutung erfahren wie Poesie. Und nur ganz nebenbei – vollkommen unaufdringlich – trägt dieser Roman dazu bei, dass vergangene Ereignisse nicht vergessen werden.

Jeder Tag wie heute. Ron Segal. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Wallstein Verlag. 2014.

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