Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

von | 11.11.2017 | Belletristik, Buchpranger

Für den Blog zum Literaturfestival globale° hat sich Stadtbesucherin Anastasia Parinow mit einem großen Erinnerungsroman über die Shoah beschäftigt, nämlich Ron Segals Debüt „Jeder Tag wie heute“. Dank einer Kooperation zwischen der Universität Bremen, der globale° und dem Bücherstadt Kurier könnt ihr ihre Rezension nun auch bei uns lesen.

„Wenn dir die Erinnerungen an Bella verblassen, kannst du wieder leben, wagte er mir zu sagen. Ich wusste: Wenn die Erinnerungen an Bella endeten, würde ich meine letzte Geschichte schreiben.“

Adam Schumacher, deutscher Jude, Überlebender der Shoah und Schriftsteller von Weltrang, kehrt im hohen Alter nach Deutschland zurück, um sein letztes Buch zu schreiben. Dieses soll ganz seiner Ehefrau und großen Liebe, der Harfenistin Bella, gewidmet sein, die zwar den Holocaust überlebt hat, jedoch einem rätselhaften Mord vor 20 Jahren zum Opfer gefallen ist.

Ehe er in der Schweiz den begleiteten Freitod wählt, will er ihre gemeinsame Geschichte, die voll ist von Grausamkeiten und Traumata, für die Ewigkeit festhalten. Adam leidet nämlich an Alzheimer, der ihm Tag für Tag seine Erinnerungen raubt. Als er eines Tages in seiner Jerusalemer Wohnung eine große schwarze Harfe auffindet, meint er, sich in der Wohnungstür geirrt zu haben. Beim wiederholten Eintreten wird ihm klar: „Ich begriff, dass ich Bella zum ersten Mal im Leben vergessen hatte.“ Kurzerhand tritt er die Reise nach München für sein literarisches Comeback an. Es beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit: Adam versucht gegen den Verfall und das Vergessen anzuschreiben. Morgens schon erscheinen ihm seine Memoiren fremd, da die Krankheit seine nächtlichen Schaffungsprozesse benebelt.

Beeindruckendes Debüt

Obwohl „Jeder Tag wie heute“ der Debütroman des 1980 in Israel geborenen Autoren Ron Segal ist, verblüfft er durch seinen reifen Stil und seine poetische Sprache, die in ihrer Ästhetik und Melancholie eher an alte Meister wie Milan Kundera erinnert. Als ein junger Autor hatte er den Mut sich an ein sehr großes Thema heranzuwagen, an dem sich bereits zahlreiche Autor*innen abgearbeitet haben und zu dem es auf ewig etwas zu sagen geben wird – wobei es schwierig ist, gleichermaßen adäquat wie innovativ zu sein.

Der Roman handelt von Erinnerungen an die Shoah und deren Aufarbeitung, aber gleichzeitig auch von der Unmöglichkeit, diese noch klar zu fassen, da sie sich in dem alten Gedächtnis mit Fantasie und Albtraum mischen. Aus der Verschmelzung von historischen Fakten und kunstvoller Fiktion entsteht so ein Roman, der einen originellen und angemessenen Umgang mit der Erinnerung an die Shoah findet.

Die Generation der Zeitzeugen und Opfer stirbt aus und zwischen dem modernen Alltag der heutigen Jugend und der Schrecken des letzten Jahrhunderts liegt ein ganzes Universum. Eben diese Distanz spiegelt Segal durch sein Roman-im-Roman-Konzept: Durch diese Doppelung der Fiktion hält er fest, was die Shoah für die junge Generation bleibt – eine Sammlung grausamer Geschichten über Tod und Leid. Nur die Kunst kann diese Geschichten einfangen, verewigen und somit als Erinnerungsmedium dienen, selbst nachdem die letzten echten Geschichtenerzähler verstummt sind.

Segal macht den Denkschritt mit, seine Distanz zu den historischen Ereignissen der Shoah zu reflektieren, sich somit nicht dem Trugschluss einer exakten Beschreibung hinzugeben, aber dennoch die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Erinnerung, sowie die Probleme des Erinnerns in literarischer Form niederzubringen. Der Schmerz, egal wie genau er zugefügt wurde, ist da und wird immer bleiben. Segals Roman erhebt keinen Anspruch auf historische Vollständigkeit, er erschöpft sich nicht in einer Mahnung, sondern stimmt ganz leise Töne an. Am Ende stehen weder Fakten noch eine Wahrheit, sondern Fragmente eines Lebens und der dunkelsten Epoche der Menschheit.

Jeder Tag wie heute. Ron Segal. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Wallstein. 2014.

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