Über die Angewohnheit, das Ende immer zuerst zu lesen

von | 13.12.2017 | Gedankenkrümel, Kreativlabor

Anfang – Mitte – Ende, drumherum zwei Buchdeckel. So funktionieren Bücher und so werden sie im Normalfall auch gelesen. Trotzdem gibt es viele Menschen, die das Ende eines Romans gerne zuerst lesen. Eine Angewohnheit, die Worteweberin Annika noch von sich selbst kennt.

„Und gemeinsam gingen sie durch das Tor zurück in die Muggelwelt.“

Wenn die Spannung zu groß oder ich zu neugierig wurde, habe ich als Jugendliche nicht selten im Roman vorgeblättert, um schnell mal auf die letzte Seite zu linsen. Kommen Harry und seine Freunde heile zurück aus der Kammer des Schreckens? Wird Meggie ihre Mutter aus der Tintenwelt zurückbekommen? Wie ergeht es Bilbo auf seiner Reise? Kommt T.S. Spivet rechtzeitig in Washington an? All das sind Fragen, die mir die Texte nicht früh genug beantworten wollten. Vielleicht ein Grund, um schnell auf den letzten Satz zu linsen?

„Ich öffnete die Tür und trat hinaus ins Licht.“

Aus unserem zunehmend digitalen Alltag sind wir es ja auch gewohnt, von Link zu Link zu springen, selbst gewissermaßen Schöpfer unseres eigenen Textes zu sein. Die meisten Romane hingegen fordern uns nicht dazu auf, selbst kreativ zu werden, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass wir über Reihenfolge und Fortgang der Geschichte entscheiden dürfen. Doch was bei Wikipedia geht, kann das nicht auch zwischen zwei Buchdeckeln funktionieren? Liegt es vielleicht daran, dass wir das Abwarten heute nicht mehr gewohnt sind, dass viele Lesende sich vom Ende magisch angezogen fühlen?

„‚Dem Himmel sei Dank!‘ sagte Bilbo und reichte ihm lachend die Tabakdose.“

Bei mir hatte es damit wohl eher nichts zu tun, besonders viel Zeit habe ich nämlich nicht in diesem Internet verbracht, in das man sich erst mühsam einwählen musste, um dann gleichzeitig nicht mehr telefonieren zu können. Doch was die Gründe auch sein mögen, letztendlich darf doch jeder lesen, wie er möchte. Für mich gehört es inzwischen zum Lesen dazu, mich vom Ende des Romans überraschen zu lassen. Andere lieben es vielleicht, sich von hinten an eine Geschichte heranzutasten, und wer möchte ihnen das verbieten? Gründe für das geduldige Abwarten gibt es für mich trotzdem.

„Wie Mo schon gesagt hatte: Mit Zauberei hat das Geschichtenschreiben eben auch zu tun.“

Oft hat es ja einen Grund, dass der Schluss am Schluss steht. Wer sich nicht an die vom Autor vorgegebene Reihenfolge hält, verdirbt sich oft den Spaß daran, vom Text in die Irre geführt zu werden und sich einfach mal überraschen zu lassen. Sich dem Zauber der Geschichte hinzugeben, die Kontrolle an den Text und seinen Autor abzugeben und sich durch eine fremde Welt führen zu lassen, kann eben viel Spaß machen. Ich jedenfalls bin überzeugt davon, dass letzte Sätze viel an Gewicht gewinnen, wenn man ihnen ihren Platz am Ende zugesteht.

P.S.: Für Neugierige: Die Zitate sind die letzten Sätze aus den folgenden Romanen (von denen es sich lohnt, auch mehr als nur das Ende zu lesen):

  • Harry Potter und die Kammer des Schreckens. J.K. Rowling. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Carlsen. 2002.
  • Die Karte meiner Träume. Reif Larsen. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer. 2009.
  • Der Hobbit. J.R.R. Tolkien. Aus dem Englischen von Wolfgang Krege. Klett-Cotta. 1997.
  • Tintenherz. Cornelia Funke. Dressler. 2003.

Ein Beitrag zur Blogparade #schraegesEnde von schraeglesen.

Illustration: Buchstaplerin Maike
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