Die Meisenkinder

von | 11.06.2017 | #litkinder, Kreativlabor, Specials

Im Norden gab es einen Wald, in welchem die Tiere so zahlreich wie die Wolken eines Regentags waren. Nahe am Rand stand eine alte Eiche, in deren Geäst zwei Meisenpärchen brüteten, von denen eines eine blaue und das andere eine schwarze Haube trug. In beiden Nestern schlüpfte jeweils ein Junges.
Mittlerweile waren diese schon so weit, dass sie ihr Heim verlassen konnten, um von Ast zu Ast zu hüpfen. Die kleinen Meisen versuchten, sich bei ihren Flugversuchen zu übertrumpfen. Flatterte eine zu einem Ast, suchte sich die andere eine größere Distanz. Jede wollte der bessere Flieger sein, keine wollte der anderen den Sieg überlassen.
Erst als der Wind stärker wurde, zudem erste Tropfen den Weg zwischen die Blättern fanden, bemerkten die jungen Meisen den Wetterumschwung. Die Sonne hatte sich vollständig hinter eine Wolkenwand zurückgezogen, aus welcher nun immer mehr Regen herabfiel. Der aufkommende Wind schob sich den kleinen Vögeln unter die Federn, was die Flugübungen für die ungeübten Meisenjungen immer schwieriger gestaltete. Geschützt vom Blätterdach der alten Eiche sprangen und glitten sie aber weiter von Ast zu Ast.
Mittlerweile sandten die Wolken kübelweise Wasser hinunter, woraus der einzelne Tropfen sich nicht mehr erkennen ließ. Beide Vogelkinder waren nass bis auf die Haut, aber sie wollten nicht zurück in ihre Nester. Stattdessen trugen sie ihren Wettkampf weiter aus. Obwohl sie sich bemühten, gelangen ihnen viele Flugmanöver nicht. Ihre Muskulatur war noch zu schwach, um all die Übungen auszuführen, zu welchen sich die jungen Meisen bereits berufen fühlten. In ihrem Eifer nahmen sie ihre Umgebung kaum noch wahr. Der Regen prasselte weiter auf sie hinab, während der Wind die Äste zittern ließ.
Gerade öffnete die junge Blaumeise ihre Flügel, visierte dabei das nächste Ziel an, als sich das Licht um sie noch etwas weiter verdunkelte. Der kleine Vogel sprang instinktiv los, hörte nur noch ein leises Klopfen. Nachdem die Krallen wieder sicher in die Eichenrinde geschlagen hatten, erkannte die kleine Meise eine große Krähe, welche sich nun, nach dem missglückten Versuch sie zu fangen, dem anderen Jungvogel zuwandte. Auch die Kohlmeise brachte sich durch einen Sprung in Sicherheit, doch nun saßen die beiden Jungvögel auf demselben Ast. Ihnen gegenüber saß die Krähe, welche die kleinen Meisen als leicht zu fangendes Abendessen betrachtete.
Der große Vogel legte den Kopf schief, beinah so, als würde er die beiden Kleinen auffordern, doch einfach still sitzenzubleiben. Nur von einem Krächzen begleitet erhob sich die Krähe und glitt auf den Ast mit den beiden Meisen zu. Erneut versuchten die jungen Vögel sich zu retten, doch durch das Training waren ihre Flügel geschwächt. Mit schmerzenden Muskeln sprangen beide Meisen der Krähe aus dem Weg, wollten im tieferen Geäst landen. Allerdings überzog Moos die Rinde, hatte dabei den Regen in sich aufgenommen und bot so ihren Krallen keine Möglichkeit einer sicheren Landung.
Beide Meisenkinder versuchten sich auf dem unsicheren Untergrund zu halten, ihre Flügel schlugen beinah so schnell wie ihre Herzen, doch das Moos löste sich von der Rinde. Erschöpft sowie unfähig, den starken Böen zu widerstehen, fielen die Jungvögel hinab auf den Waldboden. Dieser war ebenfalls durchtränkt und aufgequollen. So bot er den Bruchpiloten eine weiche Landung, wenn auch ihre Federn zerzaust wurden.
Die Krähe segelte ebenso ein paar Äste hinab, besah sich die beiden, denn sie wollte keine Flucht dulden. Auf dem Boden bewegten sich die Meisenkinder zu Fuß nur langsam. Während sie flüchteten, fanden sie den Eingang eines Mäusebaus, in welchen die beiden hineinhuschten. In der klammen Dunkelheit harrten sie aneinandergekuschelt aus. Nach einer Weile wagten sie sich wieder heraus, von der Krähe war zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu sehen. Aber durch die gemeinsame Flucht sowie die Zeit im Mäuseloch waren die beiden Meisen Freunde geworden.

Sanna Renner, Twitter: @chaoskraehe
Illustrationen: Buchstaplerin Maike

Ein Beitrag zum Projekt #litkinder. Hier findet ihr alle Beiträge. Diese Geschichte entstand außerdem zum Bild Nr. 25 des Projekts „100 Bilder – 100 Geschichten”.

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