Zwei Indiebooks aus der Wildnis

von | 07.06.2022 | Belletristik, Buchpranger

Mit zwei Neuerscheinungen aus Indie-Verlagen ist Worteweberin Annika in die Wildnis abgetaucht: „Skabelon“ von Malin C.M. Rønning und „Angsttier“ von Lola Randl zeigen nicht nur wilde Wälder, sondern auch das Wilde in uns Menschen – und sind außerdem ganz besondere Romane.

Angsttier

Friedel und Jakob träumen von einem Leben auf dem Land. Unkomplizierter soll es sein, idyllischer, einfacher. In der ostdeutschen Provinz stoßen sie auf ein Häuschen im Wald und dank Friedels steinreichem Vater ist der Kauf schnell abgeschlossen – allerdings mit einem Haken: Jakob steht nicht mit im Kaufvertrag. Ein erster Knacks für das Selbstbewusstsein des mäßig erfolgreichen Schriftstellers und damit auch für die Beziehung der beiden. Dabei sollte diese im neuen Haus doch eigentlich aufblühen, besonders, weil Nachwuchs unterwegs ist.

Spätestens als sich nach einem Tierbiss in Jakobs Hand das Angsttier in ihm breit macht, ist es mit der Idylle aber vollends dahin: Er wird aggressiv, gibt das Schreiben an seinem zweiten Roman auf, verliert die vermeintliche Realität aus den Augen – und auch wir Leser*innen tappen im Ungewissen. Was sind Jakobs Fantasien und Fieberträume, was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Mehr und mehr nimmt der anfangs langsam erzählte Roman Fahrt auf, mehr und mehr entgleitet Jakob sein Leben. Auf den letzten Seiten bleiben wir Leser*innen fassungslos zurück, obwohl Jakobs Entwicklung völlig stringent und überzeugend erzählt ist. Oder vielleicht auch gerade deswegen! Denn Lola Randl zeigt, wie schnell es gehen kann, dass aus einem Menschen ein Geschöpf der Wildnis wird.

Randls Roman spielt mit Werwolfmythen, die in dem kleinen ostdeutschen Ort erzählt werden und seltsam an Jakobs Weg in die Wildnis erinnern. Nach den beiden schon durch ihre Perspektive weiblichen Romanen „Der große Garten“ und „Die Krone der Schöpfung“ ist ihr neuer Roman „Angsttier“ aus der Sicht eines Mannes erzählt. Er stellt Fragen nach der Rolle eines Mannes, Vaters und Familienversorgers in unserer heutigen Gesellschaft. Erwartungen, denen Jakob nicht glaubt, gerecht werden zu können und denen er sich letztlich entzieht. Der Ton im Roman ist rau, der Stoff schwer verdaulich. Keine der Figuren vermag es, Sympathie zu wecken. Das ist auch nicht nötig, dieses Buch möchte eher aufwühlen als einlullen. „Angsttier“ ist ein intelligenter Roman, der den Horror vorführt, der in uns allen schlummert. Nichts für ganz schwache Nerven.

[tds_warning]Contentwarnung: Sexualisierte Gewalt[/tds_warning]

Angsttier. Lola Randl. Matthes & Seitz. 2022.

Skabelon

Auch „Skabelon“ der norwegischen Autorin Malin C.M. Rønning nimmt uns mit in den wilden Wald, und auch dieses Buch fordert viel von seinen Leser*innen. Wir erfahren darin aus der Ich-Perspektive von einer Kindheit in einem Häuschen im Wald. „Nur Babys bringen Glück. Das Unglück kommt wieder, wenn sie groß werden“, sagt Urds Mutter. So wächst die Kleine als sechstes von acht Kindern auf, mit zu wenig zu essen, zu wenig Liebe, zu wenig Interesse von Seiten der Eltern. Urd ist Einzelgängerin, liebt den Wald und die Tiere, nimmt sehr genau die Natur unter die Lupe. Auch das Leben im Haus beobachtet sie und notiert, welche Dinge mit der Zeit verschwinden: Ihre Geschwister, Gegenstände… Doch im Gespräch mit den anderen Geschwistern zeigt sich auch: Ihre Erinnerungen sind nicht zuverlässig, jede*r macht sich ein anderes Bild vom gemeinsamen Leben im Wald.

„Menschen haben in ihrem Inneren nur Platz für sich selbst, und etwas Helles und etwas Dunkles. Aber ich habe mehr, ich habe alle Tiere, mein Körper ist eine Landschaft, und darin wohnen sie, in verschiedenen Räumen: Vielfraße und Füchse und Bären und Hirsche und Elche und Spinnen und Krähen und Habichte und Hechte und Ratten und Eichhörnchen und Ameisen und Raben und Schlangen und Libellen und Würmer und Dachse und Sperlinge und Fliegen.“ (S. 105-106)

Immer zieht Urd den Vergleich zu den Tieren und dem, was sie rund um das Haus beobachten kann. Ihre Welt ist die Wildnis. Doch als Urd in die Schule kommt, wird sie zunehmend mit dem Leben außerhalb des Waldes konfrontiert, mit den Vorurteilen und dem, was andere Menschen als „normal“ ansehen. So durchwandern wir mit Urd ihre Erinnerungen, teils sprunghaft, und je älter das Kind wird, desto erschreckender wird das Erzählte.

Rønnings Roman hat eine ungeheure Sogkraft, erschüttert beim Lesen zugleich immer wieder. Die Verwahrlosung der Kinder ist nur schwer erträglich, auch wenn sie durch Urds kindliche Augen geschildert und vieles nur zu erraten ist. Auch Urd selbst macht es ihrer Umgebung und uns Leser*innen nicht immer leicht. Sie kennt die Regeln des Zusammenlebens nicht – woher auch? –, verhält sich sonderbar, mal animalisch, mal bösartig. Inhaltlich ist das nicht leicht zu ertragen, sprachlich ist „Skabelon“ so flirrend schön wie der Umschlag des Romans (übrigens auf fantastischem Strukturpapier gedruckt).

„Dass dieser Wald mir gehört, das sollst du wissen. Dieses Moor, das vergilbte Gras. Aber der Friede gehört mir nicht, und auch nicht das Licht.“ (S. 155)

„Skabelon“ war für mich ein absolutes Highlight, das ich nur wärmstens weiterempfehlen kann. Wer die Natur und schöne Bücher liebt, ist hier genau richtig.

[tds_warning]Contentwarnung: Totgeburt[/tds_warning]

Skabelon. Malin C.M. Rønning. Aus dem Norwegischen von Andreas Donat. Karl Rauch Verlag. 2022.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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