„Zur See“: Raues Inselleben

by Worteweberin Annika

In „Zur See“ dekon­stru­iert Dörte Han­sen nach dem Alten Land ein wei­te­res nord­deut­sches Para­dies: die Nord­see­insel. Worte­we­be­rin Annika ist ihr in die Tou­ris­ten­idylle gefolgt und war begeistert.

„Alle Inseln zie­hen Men­schen an, die Wun­den haben, Aus­schläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr rich­tig atmen kön­nen oder nicht mehr glau­ben, die ver­las­sen wur­den oder jeman­den ver­las­sen haben. Und die See soll es dann rich­ten, und der Wind soll pus­ten, bis es nicht mehr weh­tut.“ (S. 21)

In „Zur See“ geht es vor allem um die Mit­glie­der der Fami­lie San­der, die seit Gene­ra­tio­nen auf der namen­lo­sen Nord­see­insel leben und die wir in der Gegen­wart ein Jahr lang beglei­ten. Es ist das Jahr, in dem ein Pott­wal an den Strand gespült wird, in dem der letzte Insel­wald an Hotel­in­ves­to­ren ver­kauft wird, in dem der Insel­pas­tor in eine Sinn­krise stürzt und Ryck­mer San­der im Suff über den Zaun aus Wal­kno­chen fällt. In dem die Sturm­flu­ten immer hef­ti­ger wer­den, die vor­letz­ten Fischer auf Tou­ris­ten­fahr­ten umstei­gen und Eske San­der der Insel­spra­che wei­ter beim Aus­ster­ben zusieht.

Hinter dem Knochenzaun

Hin­ter einem Zaun aus Wal­kno­chen war­te­ten schon seit 300 Jah­ren Kapi­täns­frauen auf ihre Män­ner, wäh­rend diese Stürme und Grön­land­wale bezwan­gen und nicht immer zurück­kehr­ten. Hanne San­der, eine der Haupt­fi­gu­ren, ist auch Kapi­täns­frau, das War­ten aber machte sie nur wütend. Nach jeder Rück­kehr ihres Man­nes Jens gab es mehr Streit, bis die­ser beschloss, gar nicht mehr wie­der­zu­kom­men. Er wurde Vogel­wart auf einer win­zi­gen Insel. Inzwi­schen ist er für die Ein­sam­keit und das unkom­for­ta­ble Leben dort jedoch zu alt gewor­den. Gibt es für ihn eine Mög­lich­keit zur Rückkehr?

Neben der Eltern­ge­nera­tion aus Hanne und Jens ste­hen die drei Kin­der Ryck­mer, Eske und Hen­rik im Zen­trum des Romans. Sie alle haben eine beson­dere Bezie­hung zur See. Ryck­mer ist Kapi­tän, durch ein Ereig­nis auf einem Con­tai­ner­schiff jedoch trau­ma­ti­siert. Eske, Alten­pfle­ge­rin auf der Insel, erforscht neben­bei die Spra­che der Insel­be­völ­ke­rung – und geht aus­nahms­los jeden Tag schwim­men. Hen­rik schließ­lich lebt seine innige Liebe zum Meer als Künst­ler aus. Außer­dem kommt der Insel­pas­tor Mat­thias Leh­mann zu Wort, der in sei­ner Insel­kir­che zum Tou­ris­ten­ma­gne­ten – „Pyro­tech­ni­ker des Herrn“ – gewor­den ist und den Sinn im Glau­ben aus den Augen verliert.

Wer braucht schon Dialoge?

Aus all die­sen Per­spek­ti­ven wird abwech­selnd erzählt, sodass sich ein brei­tes Pan­orama der Insel­be­völ­ke­rung vor uns aus­brei­tet. Unge­wöhn­lich dabei: Dörte Han­sen ver­zich­tet fast voll­kom­men auf wört­li­che Rede und Dia­loge. Statt­des­sen wech­seln sich die Gedan­ken und das Erle­ben der Figu­ren mit Betrach­tun­gen über das Insel­le­ben ab. Trotz­dem liest sich der Roman nicht weni­ger leben­dig als zum Bei­spiel „Altes Land“, in dem die Autorin noch mehr auf Dia­loge setzt. Im Gegen­teil ist „Zur See“ für mich sogar Han­sens bis­her stärks­ter Roman. Das liegt an den genauen Beob­ach­tun­gen und dem beson­de­ren Ton der Erzähl­stimme. Von der ers­ten Seite an war ich von der rauen Erzäh­lung gefesselt.

Gegenwärtige Themen

Dörte Han­sen ist mit ihrem Roman ganz im Jetzt ver­an­kert und spricht in der Geschichte gesell­schaft­li­che The­men rund um Klima- und Struk­tur­wan­del an. Anhand der San­ders und der ande­ren Figu­ren erle­ben wir die Schat­ten­sei­ten des Insel­tou­ris­mus: die hor­ren­den Kos­ten für Immo­bi­lien und Mie­ten, das Ver­kom­men von Insel­spra­che und ‑kul­tur zu Schau­gü­tern, die Not­wen­dig­keit für die Alt­ein­ge­ses­se­nen, an die Tages­rän­der aus­zu­wei­chen, wenn die Gäs­te­scha­ren ver­schwun­den sind.

„Land gewon­nen, Land zer­ron­nen. Alles will hier Hori­zont sein. Und falls die See doch län­ger brau­chen sollte, wer­den Bus­tou­ris­ten, Kurz­ur­lau­ber, Kapi­täns­haus­käu­fer dafür sor­gen, dass die Leute von den Inseln unter­ge­hen. Ihre Spra­che nicht mehr spre­chen, ihre Lie­der nicht mehr sin­gen, ihre Trach­ten nur noch für die Gäste tra­gen und zu Klein­dar­stel­lern ihres Lebens wer­den.“ (S. 168)

„Zur See“ ist ein Roman mit gro­ßer Wucht. Sprach­lich, erzäh­le­risch und inhalt­lich weiß Dörte Han­sen zu über­zeu­gen und gleich­wohl auch zu unter­hal­ten. Für mich ist der Roman daher ein abso­lu­tes High­light aus dem letz­ten Jahr.

Zur See. Dörte Han­sen. Pen­guin. 2022.

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