„Zur See“: Raues Inselleben

von | 04.02.2023 | Belletristik, Buchpranger

In „Zur See“ dekonstruiert Dörte Hansen nach dem Alten Land ein weiteres norddeutsches Paradies: die Nordseeinsel. Worteweberin Annika ist ihr in die Touristenidylle gefolgt und war begeistert.

„Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.“ (S. 21)

In „Zur See“ geht es vor allem um die Mitglieder der Familie Sander, die seit Generationen auf der namenlosen Nordseeinsel leben und die wir in der Gegenwart ein Jahr lang begleiten. Es ist das Jahr, in dem ein Pottwal an den Strand gespült wird, in dem der letzte Inselwald an Hotelinvestoren verkauft wird, in dem der Inselpastor in eine Sinnkrise stürzt und Ryckmer Sander im Suff über den Zaun aus Walknochen fällt. In dem die Sturmfluten immer heftiger werden, die vorletzten Fischer auf Touristenfahrten umsteigen und Eske Sander der Inselsprache weiter beim Aussterben zusieht.

Hinter dem Knochenzaun

Hinter einem Zaun aus Walknochen warteten schon seit 300 Jahren Kapitänsfrauen auf ihre Männer, während diese Stürme und Grönlandwale bezwangen und nicht immer zurückkehrten. Hanne Sander, eine der Hauptfiguren, ist auch Kapitänsfrau, das Warten aber machte sie nur wütend. Nach jeder Rückkehr ihres Mannes Jens gab es mehr Streit, bis dieser beschloss, gar nicht mehr wiederzukommen. Er wurde Vogelwart auf einer winzigen Insel. Inzwischen ist er für die Einsamkeit und das unkomfortable Leben dort jedoch zu alt geworden. Gibt es für ihn eine Möglichkeit zur Rückkehr?

Neben der Elterngeneration aus Hanne und Jens stehen die drei Kinder Ryckmer, Eske und Henrik im Zentrum des Romans. Sie alle haben eine besondere Beziehung zur See. Ryckmer ist Kapitän, durch ein Ereignis auf einem Containerschiff jedoch traumatisiert. Eske, Altenpflegerin auf der Insel, erforscht nebenbei die Sprache der Inselbevölkerung – und geht ausnahmslos jeden Tag schwimmen. Henrik schließlich lebt seine innige Liebe zum Meer als Künstler aus. Außerdem kommt der Inselpastor Matthias Lehmann zu Wort, der in seiner Inselkirche zum Touristenmagneten – „Pyrotechniker des Herrn“ – geworden ist und den Sinn im Glauben aus den Augen verliert.

Wer braucht schon Dialoge?

Aus all diesen Perspektiven wird abwechselnd erzählt, sodass sich ein breites Panorama der Inselbevölkerung vor uns ausbreitet. Ungewöhnlich dabei: Dörte Hansen verzichtet fast vollkommen auf wörtliche Rede und Dialoge. Stattdessen wechseln sich die Gedanken und das Erleben der Figuren mit Betrachtungen über das Inselleben ab. Trotzdem liest sich der Roman nicht weniger lebendig als zum Beispiel „Altes Land“, in dem die Autorin noch mehr auf Dialoge setzt. Im Gegenteil ist „Zur See“ für mich sogar Hansens bisher stärkster Roman. Das liegt an den genauen Beobachtungen und dem besonderen Ton der Erzählstimme. Von der ersten Seite an war ich von der rauen Erzählung gefesselt.

Gegenwärtige Themen

Dörte Hansen ist mit ihrem Roman ganz im Jetzt verankert und spricht in der Geschichte gesellschaftliche Themen rund um Klima- und Strukturwandel an. Anhand der Sanders und der anderen Figuren erleben wir die Schattenseiten des Inseltourismus: die horrenden Kosten für Immobilien und Mieten, das Verkommen von Inselsprache und -kultur zu Schaugütern, die Notwendigkeit für die Alteingesessenen, an die Tagesränder auszuweichen, wenn die Gästescharen verschwunden sind.

„Land gewonnen, Land zerronnen. Alles will hier Horizont sein. Und falls die See doch länger brauchen sollte, werden Bustouristen, Kurzurlauber, Kapitänshauskäufer dafür sorgen, dass die Leute von den Inseln untergehen. Ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Lieder nicht mehr singen, ihre Trachten nur noch für die Gäste tragen und zu Kleindarstellern ihres Lebens werden.“ (S. 168)

„Zur See“ ist ein Roman mit großer Wucht. Sprachlich, erzählerisch und inhaltlich weiß Dörte Hansen zu überzeugen und gleichwohl auch zu unterhalten. Für mich ist der Roman daher ein absolutes Highlight aus dem letzten Jahr.

Zur See. Dörte Hansen. Penguin. 2022.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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