Zu Recht nominiert: „Das Sandkorn“

von | 04.09.2014 | Belletristik, Buchpranger

Zwischen all den Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg, die die Tische der Buchhandlungen bedecken, darf man nicht diejenigen vernachlässigen, die fernab der Schützengräben spielen, sondern in einer Welt voller Ästhetik und gefährlicher Gefühle. So wie Christoph Poschenrieders „Das Sandkorn“. – Von Buchstaplerin Maike

„Denn verdächtig ist er durch das, was er tut; selbst wenn es nicht verboten sein sollte.“

Berlin, 1915: Es ist Krieg, und der junge Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn wandert durch die Hauptstadt, um italienischen Sand auszustreuen. Keine Straftat, aber verdächtig, und so wird er von Kommissar Treptow vernommen. Tolmeyn beginnt, die Vorgeschichte zu seinem rätselhaften Verhalten auszubreiten, und immer mehr verschwimmen die Zeiten und was Wahrheit und Lüge ist. Denn eigentlich sollte Tolmeyn im vorigen Jahr eine ausgedehnte Forschungsreise in Süditalien unternehmen, bei der er nicht nur begonnen hat, Sand als Erinnerung einzustecken, sondern sich auch in seinen Kollegen Beat verliebt. In Deutschland ist Homosexualität zu dieser Zeit ein Verbrechen, das nicht ans Licht kommen darf, und so ist Tolmeyn froh, den Spuren Friedrich II. in Apulien nachzugehen. Noch komplizierter wird es für ihn, als eine junge Frau, Letizia, zu den Forschern stößt und damit eine spannungsgeladene Dreiecksbeziehung entsteht.

„Der Fehler ist zu glauben, dass Menschen, die viel erzählen, alles erzählen: Das ist genauso wenig wahr wie die Annahme, dass Menschen, die wenig sagen, viel verschweigen.“

Die Handlung wird über drei Erzählstränge getragen – durch den Reisebericht Tolmeyns, das Verhör in Berlin und Treptows Memoiren – und es wird schnell klar, dass beide Männer einander verschweigen, wie viel sie wissen: Ein Spiel mit der Wahrheit, die fast an ein Kammerspiel denken lässt. Der Leser weiß immer mehr als die beiden Hauptfiguren und fiebert dennoch mit, was geschehen wird. Das liegt vor allem an dem besonderen Aufbau der Geschichte. Über drei Zeiten hinweg liest sie sich homogen, nie kommt das Gefühl auf, unterbrochen zu werden, wenn der Erzählstrang wechselt; vielmehr werden Fragen beantwortet und neue Spannungsfelder geöffnet. Gleichzeitig wird, fast nebenbei, ein nicht ermüdendes Bild von der Zeit gemalt, die zwischen politischen Umbrüchen und dem brisanten Thema des Paragraphen 175 changiert – man fällt nahtlos in die skizzierte Welt.

Besonders interessant ist das Motiv des Sandes, das sich von vorn bis hinten durch das Buch zieht. In allen Ausprägungen tritt der Sand als Metapher für das Leben und die Menschen ein. Während sich Tolmeyn seinen Untersuchungen zu den kleinen Körnern widmet, beginnt auch der Leser über den Zusammenhang von Groß und Klein nachzudenken.

„Wissen Sie“, sagt er, „dass jedes Sandkorn ein Gesicht hat?“

Die Sprache ist sinnlich und fließend und arbeitet mit wunderschönen synästhetischen Bildern, die den Leser gefangen nehmen und wechselnd ins paradiesische Italien und ins graue Berlin entführen. Sie ist wie Treibsand; lässt man sich auf die glatten, künstlerischen Sätze ein, wird man mitgerissen – sträubt man sich und will es grob, findet man keinen Zugang.

Poschenrieder kreiert darüber hinaus eine unglaubliche Nähe zu Tolmeyn, sodass man fast gezwungen ist, sich mit seiner leicht weltfremden, leicht exzentrischen Art anzufreunden und mit ihm zu zweifeln, ob seine Liebe zu seinem Kollegen erwidert wird. Vor allem, da Letizia erst nach gut zwei Dritteln des Buches eingeführt wird und Tolmeyn, und damit auch dem Leser, zunächst ein Korn im Auge ist – durch ihre Darstellung als Frauenrechtlerin und Sand im Getriebe wird dieser Eindruck aber schnell abgemildert.

Fazit: „Das Sandkorn“ von Christoph Poschenrieder schafft es, aus den Büchern über den Ersten Weltkrieg durch seine Sprache und den einfühlsamen Inhalt hervorzustechen. Die politischen Ereignisse werden aus einer anderen Perspektive geschildert und nehmen, durch die Augen Tolmeyns, eine bittersüße Färbung an. Wie bei der Mischung vom Sand verschiedener Orte gelingt eine Verschmelzung von Reisebericht, Liebesgeschichte, Krimi und (Anti-)Kriegsroman, die lange nachklingt. Nicht umsonst wurde „Das Sandkorn“ für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert. Ich würde dem Titel den Sprung auf die Shortlist wünschen.

Das Sandkorn. Christoph Poschenrieder. Diogenes. 2014.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Hat dies auf amethyststurm rebloggt und kommentierte:
    Wie versprochen – meine vollständige Rezension zu einem Buch, das ich nur empfehlen kann.

    Antworten

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  1. Zwei Rezensionsankündigungen und ein Teaser | amethyststurm - […] Rezensionen dort erscheinen – zu Poschenrieders “Das Sandkorn” jetzt auf der Website, zu Fians “Das Polykrates-Syndrom” in der Zeitschrift,…

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