You not com

von | 01.04.2015 | Kreativlabor

„You not com – me not see!“ An diese unmissverständliche Ausladung musste ich denken, als ich Ihr Foto sah. Man hatte uns eindringlich davor gewarnt, das Innere der Insel Jamaika zu besuchen, denn die Wege und Straßen sind nicht in den Landkarten verzeichnet, der Busch ist undurchdringlich und Nebel verhindere die Sicht. Keiner der Anwohner ist auf unseren Besuch erpicht.

So fuhren wir denn Woche für Woche mit den Kindern die endlosen Serpentinen hinunter ans Meer. Die Kinder liebten die langen weißen Sandstrände und das blaue Meer. Hin und wieder wechselten wir zu einem anderen Strand und erkundeten so die Insel. Eines Tages, als wir das Haus in den kühlen Bergen verlassen hatten, und erneut eine Fahrt an das Meer starteten, kamen wir an die Abzweigung in Tombstone. Dort konnten wir abbiegen, um an das Meer zu gelangen. Wir zweigten nicht ab. Wir fuhren geradewegs in eine lange kühle Bambus-Allee. Die hohen Bambusrohre schlossen sich in der Höhe zu einem Dach und gaben uns das Gefühl durch einen Dom zu fahren.
Die Zuckerrohrfelder links und rechts der Straße hörten auf, und der grüne dichte Wald begann. Je weiter wir fuhren, umso dichter und üppiger wurde der Wald. Flaschenbäume mit einer Höhe von 25 Metern waren keine Seltenheit. Herrliche großblättrige Kletterranken wuchsen an ihren Stämmen empor. Ab und zu sprudelte ein Bach über den Weg und feiner Nebel hing im Gebüsch. Die Kinder behaupten: hier ist es unheimlich. Wir waren schon lange niemanden mehr begegnet. Wo sind wir eigentlich? Die Landkarte weiß es! Ja, von wegen – hier an diesem Standort hört der Weg auf. Nur ein großer weißer Fleck war auf der Karte. Jetzt wissen wir es, wir sind im Cockpit Country. Land im Südwesten Jamaikas. Die Maroons leben hier in diesem verborgenen Teil der Insel. Bis heute sind sie autonome Jamaikaner auf ihrem eigenen Land.

Vor zweihundert Jahren, als die afrikanischen Sklaven einen Aufstand probten, mussten viele von ihnen fliehen. Die Maroons halfen den Flüchtigen sich zu verstecken. In diesen unzugänglichen Teil des Landes war dies möglich. Die Kolonialherren, die Engländer, forderten zwar die Herausgabe der Sklaven, aber ein erneuter Aufstand gegen die Kolonialherren endete siegreich für die Aufständischen. Im Friedensvertrage wurden die Forderungen der Sklaven und der Maroons erfüllt. Das Land, auf dem sie lebten, wurde ihnen übereignet. Die ehemaligen Sklaven erhielten ebenfalls Land und konnten so ihren Lebensunterhalt erwirtschaften und waren freie Bürger. Nur mit der Zuckerrohrwirtschaft ging es von da an bergab. Aus dieser gefährlichen Zeit des Aufstands kommt die unmissverständliche Warnung: „You not com, me not see!“
Wir dagegen haben die Maroons als freundliche, aufgeschlossene Menschen kennengelernt und sind von da an noch öfters in das Cockpit Country gefahren. Ich denke oft wehmütig an diese Zeit zurück, denn ich habe seitdem nie wieder so herrliche Orchideen gesehen. Sie wuchsen hoch in den Baumwipfeln und ihre Blütenrispen hingen wie kleine Wasserfälle über den Weg.

Dorothea Ender
Foto: Marco
Ein Beitrag zum Schreib-Projekt “100 Bilder – 100 Geschichten“.

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