Wie es zu Ende geht

von | 06.10.2019 | Belletristik, Buchpranger

Liebesgeschichten beginnen in der Literatur meistens mit dem Kennenlernen und enden vor dem Traualtar. Geir Gulliksens „Geschichte einer Ehe“ hingegen beleuchtet das Ende einer Liebe, ihre Bruchstellen und Schwachpunkte. Worteweberin Annika hat den Roman gelesen.

Ein Mann erzählt einer Frau von ihrer Ehe, davon, wie sie begann, wie sie verlief, wie sie zu Ende ging. Besser gesagt: Er lässt die Frau erzählen, begibt sich in die Perspektive des Du, damit beide verstehen können, wie es eigentlich dazu kam.

Als sie sich kennenlernen, ist er – Jon – frisch verheiratet, hat bereits ein kleines Kind. Doch die neue Liebe schlägt zwischen ihm und der angehenden Ärztin Timmy ein wie ein Blitz, lässt die alte verblassen. Jon und Timmy sind sich sicher, dass sie für immer miteinander sein wollten, dass sie ganz besonders sind. Sie organisieren Beruf, Haushalt und Kinder spielerisch und finden nebenbei noch Zeit für Zweisamkeit, für tiefgründige Gespräche und immer noch knisternden Sex.

Ein anderer Mann

Sie sind sich sicher, dass es zwischen ihnen immer so bleiben wird – nun reden sie kaum noch miteinander. Es beginnt mit einem anderen Mann, einem Nachbarn und Kollegen, der Timmy zum Freund wird. Und damit, dass sich Gewöhnlichkeit einschleicht, die Jon so verzweifelt verhindern möchte. Während er Timmy noch dazu ermutigt, sich frei zu fühlen, sich auf den Mann einzulassen, da „es ihrer Ehe gut stehen würde“, wenn sie es nur will, verliebt sie sich ernsthaft in den anderen Mann und kann sich bald schon nicht mehr vorstellen, wie sie eigentlich war, die alte Liebe.

„Aber geht es bei der Liebe zwischen erwachsenen Menschen nicht auch um die Furcht davor, allein zu leben, darum, seiner eigenen Gesellschaft zu entkommen, beinahe um jeden Preis? Jemanden zu finden, zu dem man nach Hause kommen kann, auf den man wartet und Rücksicht nimmt, in den man hineinhorcht, der einen sanft korrigiert? Das Gesicht eines Menschen zu sehen, der vielleicht weiß, wer du bist oder wer du nicht bist?“ (S. 98)

„Geschichte einer Ehe“ erzählt von Gefühlen, vom menschlichen Miteinander, von Liebe und Erotik. Trotzdem ist der Roman kein klassischer Liebesroman, im Gegenteil. Genau beobachtend seziert Gulliksen diese Ehe, lässt Jon Ereignisse, Vermutungen und Gefühle offenlegen und Leserinnen und Leser mit in einen Strom der Melancholie hinabtreiben. Von Anfang an ist klar, dass diese Ehe scheitert, und mit Jon verstehen auch wir nach und nach, wie es dazu kam, ohne dass alles auserzählt würde.

Die Trümmer

Sprachlich hat mich „Geschichte einer Ehe“ in den Bann gezogen, viele Sätze habe ich markiert, um sie erneut zu lesen. Gulliksen erzählt in einer sehr klaren Sprache, aus der die Wunden hervorbrechen, die die Liebenden einander zufügen. Er lässt viele Leerstellen, transportiert vor allem die schmerzliche Stimmung und kreist um einzelne Situationen.

„Bald werden die Trümmer des Winters auf dem Asphalt hervorschmelzen, bald wird alles, was jemand aus Versehen oder Wut in den Schnee geworfen hat, vor allen Augen bloßgelegt sein, ein blasser, ärmlicher und aufwühlender Anblick.“ (S. 203-204)

„Geschichte einer Ehe“ ist ein Roman, der durch stimmungsvolle Sprache und eine interessante Erzählsituation überzeugt. Wer über sehr ausführliche Sexszenen hinwegsehen kann, kann guten Gewissens zu diesem Roman greifen.

Geir Gulliksen hat sich in Skandinavien schon als Lektor und Verleger einen Namen gemacht. Mit „Geschichte einer Ehe“ (im Original 2015) schaffte er es als Autor auf die Shortlist des Nordischen Literaturpreises. Dass der Roman nun auf Deutsch zu lesen ist, verdankt sich auch der Förderung durch NORLA (Norwegian Literature Abroad), denn Norwegen ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2019.

Geschichte einer Ehe. Geir Gulliksen. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. Luchterhand. 2019.

 

Bücherstadt Magazin

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