Wie eine Eisblume

von | 12.12.2019 | #litadvent, Belletristik, Buchpranger, Specials

In „Das Eis-Schloss“ schreibt Tarjei Vesaas über einen gefrorenen Wasserfall, die Verheißungen einer neuen Freundschaft und ihr jähes Ende. Worteweberin Annika hat sich vom Eis-Schloss verzaubern lassen.

Das Unausgesprochene lauert zwischen den beiden Mädchen Siss und Unn. Seit sie sich im Frühling das erste Mal gesehen haben, wissen sie, dass zwischen ihnen etwas passieren soll, passieren muss. Im Herbst, kurz vor dem ersten Schnee, verabreden sie sich das erste Mal. Voller Aufregung verbringen sie den Nachmittag zusammen. „Sie leuchteten einander an, gingen ineinander über, es war ein unfassbarer Moment.“ (S. 24) Versprechen, Erwartungen und Geheimnisse knistern zwischen den Mädchen, doch an diesem Abend werden sie nicht ausgesprochen.

Und auch später nicht, denn am nächsten Morgen beschließt Unn, nicht zur Schule zu gehen. Um das nächste Treffen mit Siss hinauszuzögern, wandert sie stattdessen auf den zugefrorenen See. Bis zum Wasserfall läuft sie, aus dem sich in der Kälte ein funkelnder, betörender Eis-Palast geformt hat. Nie wieder kehrt Unn zurück. Die Suchaktionen bleiben ohne Ergebnis. Siss muss lernen, mit ihren Gefühlen und einem Versprechen zu leben, das sie aus der Gemeinschaft auszuschließen droht.

„Die Männer vergessen sich im Spiel dicht hier an dem Eis-Palast. Etwas hat sie sozusagen übernommen, sie suchen fieberhaft im Kreis, nach etwas Teurem, das verunglück ist, aber sie werden selbst mit hineingezogen. Sie sind erschöpfte, ernste Männer und opfern sich willig einer Verzauberung […].“ (S. 93)

Tarjei Vesaas schreibt poetisch und gefühlvoll, aber kein bisschen verkitscht über die Gefühle der jungen Siss, ihr Erwachsenwerden, Freundschaft und Trauer. Der Roman kreiert eine eisige, gespannte Atmosphäre, die von all dem Unausgesprochenen zehren kann. Im Anhang befindet sich ein Text der britischen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing, in dem sie Vesaas Text als feinsinnig, einzigartig und außergewöhnlich in den höchsten Tönen lobt. Zu Recht! Bei diesem Roman merkt man auf der ersten Seite, dass man etwas ganz Besonderes vor sich hat, so zart und kühl wie eine Eisblume.

„Das Eis-Schloss“ erschien 1963 und bescherte dem Autor eine Auszeichnung mit dem Preis des Nordischen Rates, dem wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens. Wie wunderbar, dass der Guggolz Verlag den Roman wiederentdeckt und auch auf Deutsch zugänglich gemacht hat – und das auch noch in einer so hübschen Ausgabe! Dieser eisige Roman sei wärmstens empfohlen, egal ob als Gabe unter dem Tannenbaum oder als kleine Abkühlung für Zwischendurch.

Das Eis-Schloss. Tarjei Vesaas. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz. 2019.

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