Wichtel-Menü: Das Waldpicknick

von | 20.05.2018 | #litfutter, Kreativlabor, Specials

Jürgen Rösch-Brassovan schreibt für June Is ein Wichtel-Menü mit Wackelpudding. June hat sich nämlich Folgendes gewünscht:

  1. Entrée: Lichtung im Mondschein (Wald)
  2. Hauptgang: Buchstabensuppe
  3. Dessert: Wackelpudding vom Aldi
Das Waldpicknick

Adela freute sich. Buchstabensuppe! Das erinnerte sie an ihre Kindheit, wo sie die ihren Namen bildenden Buchstaben am Tellerrand zu sortieren pflegte, bis dort A D E L A stand. Jetzt, im Mondenschein auf dieser Waldlichtung, gestaltete sich das ziemlich schwierig. Vielleicht sollte sie näher an das Feuer heran, dachte sie. Doch ehe sie den Gedanken in die Tat umsetzen konnte, wurde Adela abgelenkt. Daniel, der fröhliche Junge mit Down-Syndrom, war nämlich verdammt nahe an den Flammen des Lagerfeuers. Adela sprang auf, während sie ihn zu warnen versuchte. Aber Silvia, die andere Erzieherin, kam ihr glücklicherweise zuvor, zog Daniel von den Flammen weg!
Adela atmete tief durch, während sie die Blicke schweifen ließ. Ein Dutzend Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren waren zu beaufsichtigen, alle mit Handicaps unterschiedlicher Art. Dazu kamen Silvia, der Praktikant Pebo und sie selbst. Ein Wochenende im Wald mit zwei Übernachtungen in Holzhütten, ungefähr dreihundert Meter von dieser romantischen Lichtung entfernt. Eigentlich eine nette Idee, aber eben auch mit Verantwortung und Arbeit für die ErzieherInnen verbunden.

Während Silvia, hellblond und schlank, alles im Griff zu haben schien, runzelte die dunkelhaarige, kräftigere Adela die Stirn. Die Kinder ließen sich die Buchstabensuppe schmecken, wobei Silvia den im Rollstuhl sitzenden Silvio fütterte. Wo aber war dieser Pebo? Adela hatte ein komisches Gefühl, was den Praktikanten anbelangte. Er wirkte nett, verfügte über diverse Talente – so hatte er auch eine Gitarre dabei, auf der er gut zu spielen verstand – aber irgendwas störte Adela an ihm. War es sein Blick? Kein Schielen, aber irgendwie schräg … Oder seine äußerst selbstbewusste Art? Jetzt war er nirgendwo zu sehen. Und wo war Manu? Die war ein ganz liebes Mädchen, welches Adela sofort ins Herz geschlossen hatte. Mit großen braunen Augen vertrauensvoll in die Welt blickend und sehr schutzbedürftig, sodass sich Adela besonders für sie verantwortlich fühlte. Vielleicht waren die beiden zu den Hütten gegangen …
Da wandte sich Silvia an Adela, deren Gedanken vertreibend: „Kannst du bitte das Dessert holen?“ Das befand sich im Kühlschrank in der „Küchenhütte“. Wackelpudding von Aldi, in den Geschmacksrichtungen „Waldmeister“ und „Himbeere“. Adela nickte, stand auf und wählte aus unerfindlichen Gründen den Seitenpfad, nicht den Hauptweg. War das Instinkt?
Nach etwa hundert Metern stutzte sie. Ein Ästeknacken im Unterholz, die Stimmen von Pebo – fordernd, ein heiseres, stoßweises Flüstern – und Manu, die ängstlich klang. „Lass mich!“ Das konnte Adela deutlich hören. Nach ein paar weiteren Schritten sah sie die beiden auch schon im Halbdunkel vor sich. Was war das!? Dieser Pebo hielt die körperlich unterlegene Manu fest, die zudem ein verkürztes linkes Bein hatte, während er sie mit der anderen Hand betatschte! Das konnte Adela im Mondschein erkennen. Ein, zwei Augenblicke lang war sie wie erstarrt, dann bewegte sie sich auf die beiden zu. Trat dabei auf einen Ast: Ein lautes Knacken ertönte. Pebo fuhr herum, die sich sträubende Manu weiterhin festhaltend. Adela sagte mit mühsam kontrollierter, aber äußerst bestimmter Stimme: „Lass sie los, Pebo! Sofort!“ Manu kam tatsächlich frei, taumelte auf Adela zu und warf sich in deren Arme. Pebo hingegen stand einstweilen nur da, atemlos, starr.
Dann aber ging er einen Schritt auf Manu und die Erzieherin zu … Was hatte er vor? Adela war mulmig zumute, aber immerhin verfügte sie über Kampfsporterfahrung. Sie war daher kurz davor, sich von der schutzsuchenden Manu freizumachen und in Kampfposition zu gehen. Aber irgendetwas brachte sie dazu, sich einfach nur auffordernd an das Mädchen zu wenden: „Komm Manu, lass uns für Pebo beten! Er ist verwirrt.“ Der Praktikant hielt inne, stand still. Dann hörten die beiden einen gequälten, fast unwirklichen Laut aus seinem Mund und er lief davon! Begleitet vom Knacken trockenen Holzes rannte er, während Manu sich noch enger an Adela presste, die beruhigend ihren Kopf streichelte. Kann man sich selbst entkommen? Dieser Gedanke ging dabei durch Adelas Kopf.
Schließlich aber besann sich die Erzieherin und fragte: „Hast du Lust auf Wackelpudding? Die anderen werden schon darauf warten.“ Das brach den Bann, denn Manu antwortete: „Oh ja, der ist lecker und wackelt so schön. Am liebsten mag ich den grünen!“ Adela lächelte und antwortete, Manu in Richtung der Holzhütten geleitend: „Den haben wir ja, nicht nur den roten aus Himbeeren. Jeder nach seinem Geschmack. Auf zum Dessert!“

Text: Jürgen Rösch-Brassovan
Illustration: Geschichtenzeichnerin Celina

Ein Beitrag zum Special #litfutter. Hier findet ihr alle Beiträge.
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