Wer nicht die Wahrheit sagt und wer lügt

von | 23.02.2019 | Belletristik, Buchpranger

Auf einer kleinen Insel kochen die Gefühle über – was im Strudel von Tauchgängen, Lust, Machtspielchen und Bootsfahrten tatsächlich vorgefallen ist, lässt Juli Zeh in „Nullzeit“ offen. Worteweberin Annika ist in den Roman abgetaucht.

Jola, eine junge Schauspielerin, und ihr Freund Theo, ein Schriftsteller, verbringen die Ferien in der Tauchschule des Ich-Erzählers Sven. Jola, die vorher nur in Telenovelas aufgetreten ist, will sich hier auf ihre erste große Rolle vorbereiten. Doch es kommt anders. Jola, Sven und Theo geraten in einen Strudel aus Begehren, Lügen und Gewalt, der dazu führt, dass Theo fast ertrinkt. Oder ertränkt wird?

Zwei Versionen eines Urlaubs

Die Handlung von „Nullzeit“ besteht größtenteils aus der zurückblickenden Erzählung des Ich-Erzählers Sven. Sven beschreibt den Alltag mit seinen Gästen Theo und Jola, die Tauchgänge, auf denen die beiden sich mehrmals daneben benehmen, aber auch die Anziehung zwischen Jola und ihm. Kontrastierend zu Svens Erzählung sind der Chronologie der Ereignisse folgend Einträge aus dem Tagebuch von Jola eingefügt. Schnell wird klar: Das, was die beiden erzählen, widerspricht sich. In Svens Version ist Jola eine intrigante Verführerin – Jola hingegen schildert die Annäherung als eine Verliebtheit, die auch von Sven ausgeht und in einer leidenschaftlichen Affäre mündet. Was auch immer vorfällt, es führt dazu, dass Svens ohnehin fragile Beziehung zur deutlich jüngeren Antje in die Brüche geht und auch seine restliche Existenz auf der Insel bedroht wird.

Schon früh in Svens Erzählung – einem schriftlichen Bericht übrigens, den er verfasst, um sich rechtlich gegen Jolas Version der Ereignisse abzusichern – wird deutlich, dass die Geschichte ein böses Ende nehmen wird. Sven deutet an, dass die Insel mit seiner Tauchschule inzwischen für ihn zur Vergangenheit gehört.

„Was passiert war, ließ sich nicht rückgängig machen. Aber es war möglich, nach einem Schlenker die Spur zu halten. Heute würde ich hinzufügen: Vorausgesetzt, man kann fahren. Scharf bremsen und das Steuer herumreißen ist niemals die richtige Strategie.“ (S. 105)

Spannung entsteht im Roman deswegen auch weniger daraus, dass man erfahren möchte, wie genau es für Sven und Jola eigentlich ausgehen wird, sondern eher, weil man sich fragt, wer hier eigentlich die Wahrheit erzählt. Die Passagen aus Jolas Tagebuch entsprechen teilweise bis in den Wortlaut Svens Erzählung, weichen aber in den wichtigen Punkten deutlich ab. Gleichzeitig bezichtigen die Figuren sich gegenseitig der Lüge; insbesondere Theo ist es, der an Jolas Glaubhaftigkeit Zweifel sät. Doch auch Sven erkennt, dass seine Geschichte an der Grenze zur Unwahrheit oszilliert: „Am Straßenrand duckte sich ein triefnasser Fuchs. Er sah bedauernswert aus. Soweit ich weiß, gibt es keine Füchse auf der Insel.“ (S. 61)

Subjektive Wahrheit

In „Nullzeit“ entzieht sich den Lesenden und den Figuren eine objektive Wahrheit, was auch im Roman selbst verhandelt wird:

„Bei Gericht hatte ich erlebt, wie Menschen die Vergangenheit nach selbst entwickelten Mustern formten. In heiliger Überzeugung erzählten sie den gröbsten Unsinn. Vielleicht war das die wichtigste Erkenntnis meiner Ausbildung: Wer nicht die Wahrheit sagte, log noch lange nicht.“ (S. 81)

Letztendlich trifft diese Aussage auch auf Svens und Jolas Erzählen zu. Doch während für Sven Schriftsteller die „höchsten Richter“ sind, die über wahr und falsch entscheiden können, widerspricht Juli Zeh dem mit ihrem Text. Jolas und Svens Versionen der Wahrheit bleiben nebeneinander stehen. Beide können wahr sein, beide gelogen – wahrscheinlich sind sie sogar beide falsch, nur subjektive „Wahrheiten“.

Erzählen und Realität

Juli Zeh gilt als eine der erfolgreichsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihren Romanen wie „Unterleuten“ oder „Corpus Delicti“ spricht sie oft gesellschaftlich relevante Themen an und zeigt sich politisch engagiert. „Nullzeit“ hingegen präsentiert auf den ersten Blick eine thrillerartige Geschichte, die vor allem Spannung verspricht. Durch die Bearbeitung des Themas Wahrheit, auch in Bezug auf die Möglichkeiten von Literatur, wird jedoch mehr aus diesem Roman.

Das liegt sicherlich auch an den Bezügen, die die Autorin zu ihren eigenen Texten herstellt: Verweise finden sich nicht nur auf die Romane „Spieltrieb“ und „Corpus Delicti“, sondern sogar auf später erschienene Texte, nämlich auf „Unterleuten“ und das damit verbundene „Dein Erfolg“.* Da auch in den Texten um „Unterleuten“ herum (verschiedene Websitetexte zum Beispiel) literarisches Erzählen und Realität in Verhältnis gesetzt werden, ergibt sich hieraus ein größeres Panorama auf das Thema Literatur und Wahrheit.

„Nullzeit“ lässt sich wunderbar als einfache, spannende Urlaubslektüre lesen. Wer jedoch Lust hat auf ein bisschen mehr, der kann von diesem Text ausgehend einen Streifzug an die Grenzen der Wahrheit unternehmen und weiter in das Text-Universum von Juli Zeh abtauchen.

Nullzeit. Juli Zeh. Btb. 2012.

[tds_council]* „Dein Erfolg“ erschien ursprünglich als Ratgeber des Autoren Manfred Gortz ohne Hinweis auf Juli Zeh und „Unterleuten“. Da zwischen „Dein Erfolg“ und „Unterleuten“ große Überschneidungen bestehen, wurde die Beziehungen zwischen „Dein Erfolg“ und „Unterleuten“ zuerst als Plagiat, dann als Fake diskutiert, das Zeh schließlich medial bestätigte. Vorher war die Existenz von Manfred Gortz Gegenstand der medialen Auseinandersetzung, legten doch online-Präsenzen die Existenz eines Gortz nahe, den aber niemand kannte: Der Autor (und Triathlet) hat einen Account beim Kurznachrichtendienst twitter (von dem aus der Zweifel an seiner Existenz kritisiert wurde), ein facebook-Profil und wird auch vom Verlag als Autor vorgestellt. In einem auf youtube erschienenen Video zeigte sich außerdem ein Mann, der für sich in Anspruch nimmt, Gortz zu sein.[/tds_council]

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