„Wenn unsere Welt zerspringt“

von | 01.04.2022 | Belletristik, Buchpranger

Die französische Schriftstellerin Samira Sedira erzählt in ihrem Roman „Wenn unsere Welt zerspringt“ eine Geschichte nach wahrer Begebenheit – so kurz und fesselnd, dass Satzhüterin Pia den schmalen Roman an einem Tag verschlungen hat.

Die Geschichte spielt in Frankreich, in Carmac, einem abgelegenen Dorf in den Bergen. Als Ausgangslage dient eine Gerichtsverhandlung: Eine zugezogene, fünfköpfige Familie wurde im Dorf brutal ermordet … von Annas Mann Constant. Die Ich-Erzählerin spricht ihren Mann an, versucht zu ergründen, was geschehen ist.

„Du hieltest den Kopf gesenkt, wie jemand, der gegen starken Wind ankämpft“ (S. 48)

Über Rückblicke wird von der Zeit vor dem Mord erzählt, und auch von einigen früheren Geschehnissen. Der zeitliche Ablauf ist dabei immer nachvollziehbar, die Beweggründe Constants hingegen … nun ja. Die äußerlichen und innerlichen Impulse, die Constant zu dieser Tat getrieben haben mögen, helfen dabei, über mögliche Beweggründe nachzudenken, ohne ein abschließendes Ergebnis zu präsentieren. Was könnte es auch rechtfertigen, ein Ehepaar und ihre drei Kinder zu töten?

Anna selbst ist trotz der erzählstimmenbedingten Innensicht eher sachlich und unnahbar. Sie berichtet fast wie eine Unbeteiligte. Daran ändern auch persönlichere Worte kaum etwas – der Text liest sich manchmal wie im Schock geschrieben. Denn auch die Rückblicke werden aus der zeitlichen Perspektive heraus erzählt, als der Mord bereits geschehen war und die Gerichtsverhandlung in vollem Gange ist, Anna also nicht mehr neutral berichten kann.

„Affaire Flactif“

Grundlage für den Roman ist ein Kriminalfall aus dem Jahr 2003, die „Affaire Flactif“, in der die fünfköpfige Familie Flactif aus scheinbar banalem Grund, nämlich Neid, von einem Mann ermordet wurde. Sediras Roman erzählt die Geschichte nicht eins zu eins nach, nimmt sie aber als Ausgangslage und transportiert sie leicht verändert ins Jahr 2015 – das Jahr der Pariser Anschläge. Anders als bei den Ermittlungen und Berichterstattungen von 2003, versucht sie über die Erzählerin Anna auch die rassistischen Motive und den Klassenkonflikt herauszuarbeiten. Die im Roman ermordete Familie Langlois ist nämlich, wie auch die reale Familie Flactif, Schwarz, beziehungsweise der Vater Bakary sowie die drei biracial Kinder.

„Je mehr Kontakt du zu ihm hattest, umso unergründlicher wurde er tatsächlich für dich. Er war immer zugleich die eine Sache und ihr Gegenteil. Als wären zahlreiche Planeten auf einmal heftig aufeinandergeprallt, doch statt dass sie auseinandergebrochen wären, hatten sie fusioniert.“ (S. 88)

Sprachlich ist der Roman eher unaufgeregt, man fliegt durch die Seiten, die inhaltlich umso brisanter sind. Aus zwei Gründen wäre eine Triggerwarnung vorab wünschenswert gewesen: Zum einen wegen der ausgesprochen detaillierten Schilderung der Gewalt- und Tötungshandlung durch Constant im Gerichtsverfahren, zum anderen wegen der Reproduktion rassistischer Sprache. Dies hätte aus meiner Sicht sensibler gestaltet werden können: Allein das N-Wort hätte in dieser Kurzform geschrieben werden können, statt es auszuschreiben. Wie dies im Französischen gehandhabt wird, kann ich nicht sagen, eventuell ist es also der Übersetzung anzukreiden.

Umkehrung rassistischer Strukturen

Rassismus ist ein im Roman eher subtil behandeltes Thema. Es gibt zwar explizite rassistisch motivierte Szenen und rassistische Grundannahmen scheinen für die Tat mindestens teilweise eine Rolle gespielt zu haben, aber es ist (scheinbar?) nicht der Hauptgrund. Dass Constant am Ende so brutal gehandelt hat, dürfte durch grundlegende rassistische Ansichten jedoch überhaupt erst „ermöglicht“ worden sein. Verstärkt wird dieser Eindruck durch verschiedene Umkehrungen üblicher (rassistischer) Strukturen: Die weiße Frau (Anna) arbeitet für den Schwarzen Mann (Bakary); dieser ist mächtig und reich, während der weiße Mann (Constant) beinahe unterwürfig wirkt; das spätere Opfer (Bakary) hat den späteren Mörder (Constant) betrogen, also ist das Opfer auch ein Betrüger und der Mörder auch ein Opfer.

„Bei den Langlois aß man umgeben vom Duft des Papiers. Die beeindruckende Anzahl der Werke imponierte dir, der du kein großer Leser warst, und eines Tages wagtest du es endlich, ihn zu fragen, ob er denn alle gelesen habe, woraufhin er schallend lachte und antwortete, dass er nicht wisse, weshalb man Bücher bei sich haben sollte, wenn man sie dort nur einstauben lasse.“ (S. 86)

Anna ist eindeutig die Sympathieträgerin im Roman. Die Figuren sind in ihrer Zahl überschaubar, aber auch in ihrer Komplexität. Ein wenig erfahren wir über die getöteten Erwachsenen, zu ihren Kindern jedoch fast nichts. Das, was man erfährt, reicht schon, um den Schrecken über eine solche Tat deutlich und fühlbar zu machen, mehr wäre kaum auszuhalten. Als sympathisch wird die ermordete Familie aber nicht geschildert.

Ebenfalls blass bleiben die Freunde von Constant, Anna und der Familie Langlois – Nebenfiguren wie Simon. Auch Anna selbst ist uns trotz der biografischen Stationen tendenziell unbekannt – am Ende habe ich nur eine vage Vorstellung von ihr (vielleicht auch deshalb, weil ihr nie optische Merkmale zugeschrieben werden). Durch ihre Position als unverschuldet Beteiligte hat sie jedoch einen spannenden Blickwinkel auf das Geschehen und das Gefühl des Schocks und des Unverständnisses lässt sich gut auf uns Leser:innen übertragen. Denn der Fokus liegt klar auf Constant, der als Fünffachmörder auf ewig ein Rätsel bleibt.

Samira Sediras Roman „Wenn unsere Welt zerspringt“ ist aufwühlend und fesselnd, er ist kurz und dicht, tiefgründig, aber subtil – und er regt dazu an, weiter über die Motive und das Geschehene nachzudenken. Ganz ähnlich wie die Erzählerin Anna verstehen wir als Leser:innen nicht, was hier eigentlich passiert ist … wie so etwas geschehen konnte. Es ist keine leichte „Zwischendurchlektüre“, obwohl man nur so durch die Seiten fliegt. Aus meiner Sicht hätte dem Buch eine Triggerwarnung vorweg gestellt werden müssen.

[tds_warning]Triggerwarnung: Explizite Beschreibung von Gewalt- und Tötungshandlung, Reproduktion rassistischer Sprache[/tds_warning]

Wenn unsere Welt zerspringt. Samira Sedira. Übersetzung: Alexandra Baisch. Piper. 2022.

Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner