Wahnsinn auf Rezept

von | 08.05.2020 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Man nehme 100 Gramm Ghulaugen, 500 Gramm Drachenherzen und eine Prise Irrsinn – heraus kommt mit Dita Zipfels „Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ ein wunderbares Jugendbuch über Normalität, Familie und das Erwachsenwerden. – Von Worteweberin Annika

Lucie Schmurrer ist fast dreizehn. Auch wenn sie für ihr Alter schon sehr erwachsen ist, versteht sie doch ziemlich oft die Welt nicht mehr – und vor allem nicht die Menschen, die in ihr leben. Da wäre zum Beispiel Michi, der neue Freund ihrer Mutter, der mehr Achtsamkeit und Wertschätzung in das Leben der Schmurrers bringen möchte. Er ist in die enge Wohnung der Familie eingezogen, erhebt Ansprüche auf Lucies Zimmer und geht Lucie mit seiner Mission der Liebe tierisch auf die Nerven. Oder Marvin aus der achten Klasse, von dem Lucie sich vielleicht wünscht, er würde sich in sie verlieben. Vor allem aber ist da Herr Klinge…

Ein besonderes Kochbuch

Herrn Klinge lernt Lucie durch einen Aushang kennen: Angeblich zahlt er 20 € die Stunde, wenn man mit seinem Hund Gassi geht. Allerdings hat Herr Klinge eigentlich gar keinen Hund, sondern höchstens einen Knall. Er glaubt daran, dass Tomaten Drachenherzen sind, Honig Werwolfspucke und Mais Feenzähne und sucht jemanden, der sein Wissen für ihn aufschreibt. Dieses Kochbuch – übrigens mit Rezepten, die die Leserinnen und Leser tatsächlich nachkochen können – soll geheim bleiben, denn Herr Klinge ist sich sicher, dass er verfolgt wird.

Weil Lucie dringend Geld für eine Fahrt nach Berlin braucht, übernimmt sie die Aufgabe. Sie möchte vor dem liebevollen Michi fliehen und ein neues Leben in der Hauptstadt beginnen. Doch wer hätte damit gerechnet, dass sie deswegen schon bald einen Liebesketchup zusammenmischen und mit Herrn Klinge auf dem Friedhof Ghule fangen würde?

Ein normaler Teenager?

Lucie beschäftigen die gleichen Themen wie viele Mädchen in ihrem Alter: nervige Eltern, der Wunsch nach Anerkennung bei Klassenkameradinnen und natürlich auch Jungen. Diese Themen werden im Roman lustig und ganz anders als gewohnt aufbereitet. Das liegt zum einen daran, dass Lucie eine Außenseiterin ist und meistens auch ganz zufrieden damit, anders als die anderen zu sein. Zwar lässt sie sich auf einen Nachmittag im Freibad mit den Klassen-Zicken ein, ist aber auch nicht sehr traurig, als sich die „Freundschaft“ zerschlägt.

Zum anderen liegt es an ihrer Familiensituation, dass „Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ kein 08/15 Jungendbuch ist. Lucies Mutter war nämlich lange mit Bernie zusammen, einer Frau. Auch wenn inzwischen der achtsame Michi in die Wohnung der Schmurrers eingezogen ist, spielt Bernie als Vorbild weiterhin eine große Rolle für Lucie. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler jedoch hänseln sie und ihren Bruder dafür, dass ihre Mutter „ein Homo“ ist. Homosexualität und die Fragen, die sich für Jugendliche damit verbinden können, werden dadurch thematisiert und als normal dargestellt, ohne dass das Thema den Roman komplett bestimmen würde. Denn auch in vielen anderen Bereichen lotet Dita Zipfel aus, was alles als „normal“ gelten kann – die Bandbreite ist riesig.

Dies ist kein Apfel

Sprachlich begibt sich der Roman auf die Augenhöhe seiner Ich-Erzählerin Lucie, ohne dabei gestelzt zu wirken. Durch die Alltagssprache lassen sich die fast 200 Seiten schnell weg lesen und können auch Lesemuffel fesseln. Gleichzeitig entstehen so Witz und ein origineller Erzählton.

Der Arbeitskreis Jugendliteratur lobt Zipfels Roman als „innovatives Buchrezept“ und hat „Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert. In der Jurybegründung werden neben der Geschichte auch die außergewöhnlichen Illustrationen der Isländerin Rán Flygenring hervorgehoben. Wie auch in „Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ kombiniert Flygenring Zeichnungen mit handschriftlichen Notizen. Die in orange, schwarz und weiß gestalteten Bilder ergänzen den Roman in Form von Lucies anthropologischen Notizen, Herrn Klinges Rezepten und Zeichnungen von absonderlichen Situationen aus Lucies Alltag.

„Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ ist ein unterhaltsamer, intelligenter und schön gestalteter Roman (nicht nur) für Jugendliche und hat eine starke Protagonistin. Die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis ist da nur verständlich.

Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte. Dita Zipfel. Illustrationen: Rán Flygenring. Carl Hanser Verlag. 2019.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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