Von höchster Urgenz!

von | 01.03.2020 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Wohlan, ihr Sprachgelehrten und Wortjongleure, ihr Wissbegierigen und mitteilsamen Schlaumeier, schätzt ihr ebenso wie meine Wenigkeit die unzählbaren Möglichkeiten, die schiere Wortgewalt, die überwältigende Vielfalt der deutschen Sprache? Dann folgt mir in „Die Wunderkammer der deutschen Sprache“ und lasst uns neue wie alte, vergessene wie unvergessliche Schätze (wieder-)entdecken. – Von Zeilenschwimmerin Ronja

„Die Wunderkammer der deutschen Sprache“ verspricht im Untertitel, mit „Wortschönheiten, Kuriositäten, Alltagspoesie und Episoden der Sprachgeschichte“ aufwarten zu können. Und mit diesen Versprechungen wird kein Schindluder getrieben! Dies ist kein Possenspiel! Auf knapp 300 Seiten präsentiert dieses Sammelsurium ein- und ausgewanderte Wörter, Teekesselchen, Jargon- und Gossensprache, kurze linguistische und grammatische Exkurse, absurde Sprachexperimente und die Lieblingswörter bekannter Autor*innen. All dies geschieht in kunstvoll-schlichtem, zweifarbigem Design, das selbst einfache Listen ästhetisch werden lässt.

Natürlich ist weder meine kurze Beschreibung des Inhalts noch der Inhalt des Buches selbst auch nur annähernd vollständig. Kein Buch ist in der Lage, eine Sprache vollumfassend wiederzugeben. Und doch bin ich überzeugt, dass selbst die eingefleischtesten Wortsammler*innen unter den Bücherstädter*innen hier noch etwas Neues finden und lernen können. Besonders die Listen mit Wörtern aus Jargon-, Gossen- und Fachsprache sind faszinierend und bieten immer mal wieder eine Überraschung, wenn eines der Wörter es in die Alltagssprache geschafft hat: etwa das Abblasen der Jäger oder die Tretorgel (=Fahrrad) aus dem nächtlichen Sankt Pauli.

Die Vielfalt der Sprache ist vielfältig

Dazwischen finden sich immer wieder Karten, auf denen dialektale Unterschiede verzeichnet sind. Übrigens werden Österreich und die Schweiz immer mit einbezogen, auf den Karten, bei der Auflistung der (Un-)Wörter des Jahres oder in kleinen Küchenlexika, in denen österreichische und schweizerische Essensvokabeln erläutert werden, die mir als „deutsches Deutsch“-Sprechende größtenteils unbekannt waren. Auch Begriffe aus der DDR sind gelistet. Sprache ist eben immer ein Teil der Geschichte.

Auch darüber hinaus ist die Zusammenstellung sehr divers: Aufzählungen über Ausschnitte aus alten Wörterbüchern stehen neben Figurengedichten und Mittelhochdeutschen „false friends“, denen eine Auflistung von „haarsträubenden Wortspielen“ in den Namen von Friseursalons folgt (z.B. Directors‘ Cut, Glückssträhne, Kaiserschnitt & Sturmfrisur). Außerdem ist neben der Entwicklung des Vater Unser über die Jahrhunderte auch eine Gegenüberstellung verschiedener Übersetzungen einer Sure des Korans enthalten. Und Zweiflern an gendergerechter Sprache lege ich die drei Seiten zu feministischer Sprachkritik ans Herz.

Das Genie beherrscht das Chaos

Das Buch folgt bei all der Varianz keiner Chronologie oder thematischen Ordnung. Das Umblättern ist eine völlige Überraschung. Begleitet von kurzen einleitenden und erklärenden Texten folgen auf die feministische Sprachkritik zum Beispiel ungebräuchlich gewordene Wörter und eine Erläuterung der Kriterien zur Einschätzung von Sprachkenntnissen (A1 bis C2).

An dieser Stelle möchte ich kurz bemerken, dass ich sehr für die Wiederbelebung des Wortes Urgenz (für Dringlichkeit) plädiere, obwohl auch Dringlichkeit bereits seltener verwendet wird. Welch‘ Schmach, welch‘ Pein!

Weil es so schön ist, möchte ich zum Schluss noch ein paar meiner Highlights aufführen, die einfach nicht unerwähnt bleiben können: Paradoxe Wörter (z.B. offenes Geheimnis, Wahlpflichtfach, herrenloses Damenfahrrad) oder Dichter, die Dichter beschimpfen – es sind in der Tat hauptsächlich Männer, die dort voller Freude ihre Kollegen beleidigen („Völlig geistloser Mann.“) –, und Wortneuschöpfungen von Kindern (bspw. Vorwärtsgesicht als Gegenteil von Hinterkopf).

Auf Grund der „Unordnung“ ist „Die Wunderkammer der deutschen Sprache“ auch weit davon entfernt, ein Fachbuch zu sein und beansprucht dies auch nicht für sich. Für dieses Buch ist kein Germanistik-Studium nötig. Wenn ihr Spaß daran habt, euch in den abgelegeneren Gegenden der Sprache herumzutreiben, in den Archiven zu forschen und euch an gescheiterten (und erfolgreichen) Experimente zu erfreuen, werdet ihr hier wohl fündig werden. Bibliophile Menschen kommen dank des Einbands, des farbigen Buchschnitts und der allgemeinen Gestaltung ebenfalls auf ihre Kosten. Wenn ihr also sprachaffin und bibliophil zugleich seid, schlagt ihr zwei Fliegen mit einer Klappe.

Die Wunderkammer der deutschen Sprache. Herausgeber: Thomas Böhm & Carsten Pfeiffer. Verlag das Kulturelle Gedächtnis. 2019. Erhältlich in der Buchhandlung eures Vertrauens.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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