Von der fremdelnd vertrauten Fremde

von | 09.10.2016 | Kreativlabor

fremdheitDie Beschäftigung mit Fremdheit ist ein großes Thema, das seit Jahrtausenden Bestand hat. Wortklauberin Erika blickt in den Spiegel des Fremden und erkennt sich selbst darin.

Das Fremde und wir selbst

Die bulgarisch-französische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva beschreibt in der 1988 im französischen Original erschienenen Schrift „Fremde sind wir uns selbst“ eine Kreisbewegung rund um „den Fremden“ in einem generischen Maskulinum. Sie versucht zunächst, das Fremdsein in einer „Toccata und Fuge“ in einem Grundkonzept zu erfassen, wobei ein Moment der Distanz gewahrt wird. Fremdsein wird als Verwaisung (vgl. Kristeva 201:31) verstanden, ein Stehen zwischen Herkunfts- und Ankunftsland, ohne Fuß in der Sprache, der Kultur, im Nationalstaat selbst zu fassen, zumal die „moderne Definition des Fremden“ (Kristeva 2013:104) an einen solchen Nationalstaat gebunden sei.

Im Folgenden überwindet ein historischer Abriss über den Umgang mit Fremdheit ab der Antike bis zur Moderne die aufgebaute Distanz zunehmend, auch wenn das konzeptuell eigentlich universelle Menschenrecht bis heute vom Bürgerrecht unterschieden wird. Kristeva speist zunächst – gerade in der Betonung des Fremden – ein Oppositionspaar, welches sie schließlich mit einem Blick zu Freuds „Das Unheimliche“ auflöst. Gerade da sich Freud auf Beispiele aus dem literarischen Geschehen konzentriert, blickt sie auf die Lücke in der Betrachtung und kehrt zu Freuds Feststellung zurück, dass das Unheimliche „jener Art des Schreckhaften (sei), welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ (vgl. Freud, nach Kristeva 2013:199).

„Angesichts des Fremden, den ich ablehne und mit dem ich mich identifiziere, beides zugleich, lösen sich meine festgefügten Grenzen auf, meine Konzuren zerfließen, Erinnerungen an Erlebnisse, in denen man mich fallengelassen hat, überfluten mich, ich verliere die Haltung.“ (Kristeva 2013:203)

Das Fremde ist anders: Es zieht, gerade in Betrachtung dieser Passage aus Kristevas Schrift, gewissermaßen den Boden unter den Füßen weg und raubt das so dringend benötigte Wort, welches eine Kommunikation und damit eine Überwindung des Fremden bedingt.

Menschsein in Sprache und Geste

Das Schweigen zeichnet sich auf beiden Seiten ab, welches vielleicht von Unwissen, vielleicht von Unwillen geprägt sein kann. Ein erster Schritt zur Überwindung dieser Sprachlosigkeit stellt die Geste der Gastfreundschaft dar, wie sie etwa beim Lehrer Daru in Albert Camus‘ „Der Gast“ zu beobachten ist. Während er den Araber, welchen er in die nächste Stadt bringen soll, anfangs noch mit Skepsis beäugt, gibt er ihm doch ungefragt Essen sowie eine Schlafstatt. Er behandelt ihn vor allem als Mensch. Doch da dieses Verhalten nicht der Norm entspricht, findet Daru sich am Ende der Handlung bei der Rückkehr in seine Schule einer Drohung gegenüber.

Diese Haltung gegenüber dem Individuum als Mensch fehlt im Gerichtsprozess in „Der Fremde“, welchem sich Camus‘ Protagonist Mersault stellen muss, nachdem er scheinbar grundlos einen Araber erschossen hat. Man hat den Eindruck, es werden nach Gründen gesucht, um Mersault zu einem Nicht-Menschen zu machen: Weil er bei der Totenwache für seine Mutter eingeschlafen ist, Zigaretten geraucht und Milchkaffee getrunken hat. Er sei gottlos, wird geurteilt. Erst eine solche Entfremdung des Eigenen, des Individuums der eigenen Gesellschaft, macht es möglich, sich seiner zu entledigen. Folgt man diesem Gedankengang, verdient Mersault, der zum Nicht-Menschen verurteilt wird, keine Gastfreundschaft und kein Prinzip des in dubio pro reo. Mersault wird zum Tode durch die Guilloutine verurteilt – ein Moment, welchen Visconti in „Lo straniero“ (1967) ausspart, indem er den Film kurz vor dem Gang zum Schafott enden lässt.

Jelineks „Schutzbefohlene“, die den antiken Stoff, welcher von Aischylos und Euripides in den „Hiketides“ bearbeitet wurde, mühelos ins aktuelle Zeitgeschehen einpassen, stoßen auf eine andere Form der Sprachlosigkeit. Während sie händeringend versuchen, sich Gehör zu verschaffen, findet sich – außer vielleicht im Zuschauerraum – kein Proxenos (vgl. Kristeva 2013:58), welcher sich ihrer annimmt wie zur Zeit der Antike. Auch sie appelliert an eine grundlegende Menschlichkeit, welche angesichts des Fremden, Nicht-Eigenen zu gern ausgespart wird.

Das unheimliche Fremde?

Angesichts dieses Umgangs mit dem Fremden – dem Beispiel-Fremden Mersault, der fremd ist in einer ihn befremdenden Welt, den nicht gehörten Fremden Jelineks sowie dem Fremden als universelle Erfahrung – stellt sich doch die Frage: Wie fremd ist uns das Fremde, wenn es schlussendlich auf die (un-)heimlichen Seiten des Selbst zurückfällt?
Schließlich steckt in „der faszinierenden Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, […] ein Moment jenes Unheimlichen, im Sinne der Entpersonalisierung, die Freud entdeckt hat und die zu unseren infantilen Wünschen und Ängsten gegenüber dem anderen zurückführt“ (Kristeva 2013:208). Das Moment des Fremden als universelle Erfahrung ist im Individuum heimlich heimelig/inhärent, und gerade darin unheimlich.
Wohl deshalb schlägt sich ein Moment der Fremdheit immer wieder in der Literatur nieder, wie etwa in Kafkas „Heimkehr“ (1920) oder Ulrike Draseners 2016 erschienenem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. An diesen beiden Beispielen wird deutlich, wie nahe das Fremde am heimlich Vertrauten liegt.

„Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.“ (Kafka 1920)

Während Kafka in der Kurzerzählung „Heimkehr“ feststellt, dass eine Heimkehr nicht zwingend eine Einkehr bedeuten muss, findet sich bei Draesner ein ähnlicher Gedanke des fremden Vertrauten und vertrauten Fremden, in einem Umkehrschluss, welcher Kristevas Beobachtungen zu bestätigen scheint. „Der Feind sah seltsam aus. Wie ein Mensch. Mutter sah fremd aus.“ (Draesner 2016:466)

Erwähnte und zitierte Literatur:
Albert Camus: Der Gast. München: dtv 2008 (im frz. Original 1957)
Albert Camus: Der Fremde. Reinbek: Rowohlt 2010 (im frz. Original 1942)
Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. München: Luchterhand Literaturverlag 2016
Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 201311 [1990]
Elfride Jelinek: Die Schutzbefohlenen. Zugriff auf www.elfriedejelinek.com, zuletzt am 01.08.2016
Franz Kafka: Heimkehr. Zugriff auf: home.bn-ulm.de, zuletzt am 02.08.2016

Illustration: Geschichtenzeichnerin Celina

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