Vom Anfang der Welt bis zu den Ragnarök

von | 01.05.2017 | Belletristik, Buchpranger

Woher stammt Thors Hammer? Was hat es mit dem Met der Dichtkunst auf sich? Und kommt der listige Loki aus dem Schlamassel heraus, in den er sich mal wieder selbst gebracht hat? Buchstaplerin Maike bekommt Antworten auf all diese Fragen in Neil Gaimans Nacherzählung „Nordische Mythen und Sagen“.

Derb, witzig, zeitlos: Neil Gaiman, der seine Erzählkunst unter anderem schon in „American Gods“ unter Beweis gestellt hat, widmet sich diesmal einem einzigen Sagenkreis und drückt ihm seinen Stempel auf. Seine Nacherzählung basiert auf ausgewählten Episoden der Lieder- und Prosa-Edda.
Wie bei alten Sagengeschichten üblich, bauen die versammelten Geschichten nur grob aufeinander auf. Zwar wird inhaltlich der Bogen geschickt vom Anfang der Welt bis zu den Ragnarök, dem Ende der Götter, geschlagen. Doch eigentlich stehen die Kapitel gut für sich allein. Eine Vorstellung der Hauptfiguren bereitet auf die Kapitel vor, ein Glossar am Ende hilft, den Überblick über all die Sagengestalten und -orte nicht zu verlieren.

„Vor dem Anfang war nichts – keine Erde, keine Winde, keine Sterne, kein Himmel […].“

Die Sprache ist zeitlos und gut lesbar und die einzelnen Kapitel haben für fast jeden Geschmack etwas dabei. Philosophische Passagen haben ebenso ihren Platz wie ausgedehnte Kampfszenen. Derber Witz wechselt sich ab mit Verrat und Tragik. Selbst Liebesgeschichten kommen zwischen all den (manchmal nicht sehr heldenhaften) Heldentaten der Götter und Menschen nicht zu kurz.

Schnell wird beim Lesen klar: Gaiman liefert ein Buch ab, dem es nicht gerecht wird, im stillen Kämmerlein gelesen zu werden. Vorgelesen entfalten sich die Abenteuer besser und die Figuren erhalten wie von selbst lebendige Stimmen. Doch „Nordische Mythen und Sagen“ ist kein Vorlesebuch für jüngere Kinder: Einige recht gewaltsame Passagen sollten dann doch der Vorauswahl der Erwachsenen unterzogen werden. Aber insgesamt erzeugt Gaiman die Atmosphäre, wie es sein muss, in einem zünftigen Trinkgelage von Nordmännern und -frauen zu sitzen und einem Meistergeschichtenerzähler zu lauschen. Nicht selten meldet sich ein Ich-Erzähler zu Wort, der direkt zu seinem Publikum spricht.

Trotz des Vorworts ist oft nicht klar, wo Gaiman sich künstlerische Freiheiten herausgenommen hat und wo er sich treu an die Inhalte der alten Erzählungen hält. Es schimmert hindurch, dass er die Ereignisse und Schlachten als ein großes Schachspiel inszeniert, das immer wieder von vorn beginnt. Sicherlich eignen sich diese „Nordische Mythen und Sagen“ als Startpunkt, sich mehr mit den Vorlagen zu beschäftigen.

„Ich werde euch erzählen, wie alles enden und wie alles von Neuem beginnen wird.“

Thor und Loki können es nicht lassen

Buchstaplerin Maikes persönliche Lieblingsgeschichte im Band ist übrigens „Freyjas ungewöhnliche Hochzeit“. Und ungewöhnlich ist sie allemal: Thor lässt sich im Schlaf seinen mächtigen Hammer vom Riesen Thrym stehlen. Nur unter einer Bedingung bekommt er ihn zurück: Die Göttin Freyja heiratet Thrym. Sie weigert sich – Thor soll seinen Fehler selbst ausbügeln. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als selbst ins Brautgewand zu schlüpfen. Loki, selbst in der Gestalt einer wunderschönen Magd, begleitet ihn, damit Thrym nicht sofort merkt, wessen Muskeln sich da unter dem Schleier wölben…
Diese Episode ist nicht die einzige, die von der Unterschiedlichkeit der Ziehbrüder lebt: Der kampfstarke, aber nicht besonders schlaue Thor und der listige Loki, dessen Pläne aber ständig nach hinten losgehen, tragen gemeinsam einen Großteil des Buches.

Nicht erst seit Marvel sind Odin, Loki und Thor verschlagene Helden. Neil Gaimans Nacherzählungen kommen aber zur rechten Zeit und stauben die (teils leider durch den Nationalsozialismus in Verruf gebrachten und instrumentalisierten) Sagen ab. Er lädt dazu ein, sie einfach wieder als Geschichten zu genießen – allein oder besser noch in Gesellschaft. Met ist nicht zwingend erforderlich.

Nordische Mythen und Sagen. Neil Gaiman. Übersetzung: André Mumot. Eichborn. 2017.

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