Völlig falsche Tonart

von | 26.09.2019 | Kreativlabor

Immer lauter plätscherten die Töne einer unbekannten Melodie über meine Bewusstseinskante. Regelmäßig folgten Stöße warmer Luft. Sie kitzelte auf meiner Kopfhaut. Ich erinnerte mich, diese Musik schon einmal gehört zu haben.
Unter mir spürte ich hartes, aufgerautes Material. Es fühlte sich kalt an.
Ein weiterer schiefer Ton, ein Luftzug. Ich erzitterte. Etwas in mir sträubte sich. Wo war ich eigentlich? Eben hatte ich noch in am Küchentisch gesessen.
Über mir flackerndes Licht. Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Weitere laute Töne prasselten auf mich ein.
Dann Ruhe.
Mein Oben wurde zu seitlich unten. Ich rutschte in Richtung einer großen Öffnung. Doch bevor ich sie erreichte, drehte sich die Wand wieder halb nach oben. Schwindelig meinte ich zu erkennen, dass ich mich wohl in einem Traum befand. Wer schlief denn in der Küche ein? Konnte auch nur mir passieren.
Nachdem die Wand länger nicht rotierte, erkannte ich eine Art Tunnel. Ganz am Ende drang viel Licht ein, vielleicht war das der Ausgang? Aber würde das nicht bedeuten … ich schluckte. War ich etwa … tot?
Echt grandios! Ob da meine Schwiegermutter die Hände im Spiel hatte? Wer wusste das schon, vielleicht dirigierte sie die Hüter der Totenwelt genauso wie uns zu ihren Lebzeiten. Ich sah sie förmlich grinsen und wahllos Arme tätscheln. „Mary-Anne bekommt kein normales Ende, nein nein, wir denken uns was ganz Besonderes für sie aus.“ Dazu noch ein keckes Blinzeln, ja ja, das sah ihr ähnlich!
Lauthals beschwerte sich eine Stimme über etwas und riss mich aus meinen Gedanken. Die Laute klangen nach meinem Sohn. Er hatte nicht nur Musik im Blut, sondern auch in der Stimme. Wenn er sprach, fing er langsam an, dann schneller, leiser, extrem laut, dann wieder langsamer. Ich erinnere mich genau an die letzte dieser Aufführungen vonseiten des Filius am Abendbrottisch. Ich hielt mir bei den lauten Passagen die Ohren zu, während sein Vater, ein begnadeter Dirigent, häufiger nur „Adagio!“ dazwischenrief – vor allem, wenn es ihm zu schnell wurde. Dann lachten wir alle. Wie lange war das her?
„Ah!“, schrie ich, als die nächste Tontirade auf mein Trommelfell einprügelte. Der nachfolgende, extrem starke Luftzug drückte mich in Richtung des nun weit entfernten Ausgangs. Während ich überlegte, ob das ein Zeichen war, gab es eine Erschütterung. Ich flog innerhalb des Rohrs geradewegs auf das Licht zu. Dann zurück ins Dunkel, dann erneut in die andere Richtung. Falls ich wirklich tot war, hatte da einer arge Entscheidungsschwierigkeiten. Mein Magen war entschlossener – ich musste würgen. Es kam aber nicht viel heraus. Wie auch, ich hatte ja gerade in der Küche das Essen zubereitet, als ich … hm, komisch. Der Rest existierte in meinem Kopf nicht. Wie konnte das denn sein? Ich erinnerte mich nicht.
Erneut schüttelte mich eine Tontirade.
Ein Luftzug folgte.
Weitere Tontiraden.
Die hatte ich beinahe vermisst. Anscheinend war das eine Aufforderung von Schwiegermama. Wenn ich ihr nicht nachkam, würde wieder alles um mich herum rotieren.
So schnell ich konnte, kroch ich, von Luftstößen begleitet, in Richtung des Lichts.
Der Tunnel wurde heller. Meine Augen gewöhnten sich langsam daran. Ich schob meinen Kopf aus der Öffnung und stellte fest, dass – nein, das konnte nicht sein! Ich lugte weiter über den Rand. Da unten, das war doch mein Teppich! Der, den ich selbst vom Baumarkt nach Hause hatte schleppen müssen. Ohne Auto, weil der Ehemann mal wieder wegen einer unglaublich wichtigen Sache zur Schwiegermutter gerufen worden war.
Fortwährende Tontiraden.
Schwächere Luftzüge.
Ich versuchte, alles zu ignorieren, so gut ich konnte.
Etwas seitlich lag Jerry, mein Rassekater. Er schaute zu mir hoch und wippte dabei mit dem Schwanz. Wie absurd! Was für ein Lebensende sollte das sein? Andere sahen ihre intensiv gelebten Momente, standen ihre tiefsten Gefühle – positive wie negative – noch mal durch. Und ich? Ich blickte mit misslicher Hintergrundmusik auf einen alten Teppich und einen riesigen Kampfkater, der sich das Maul nach einem Leckerli – hoffentlich nicht mir – leckte.
Ich musste Jerry für meine Flucht aus dem Tunnel nutzen! Wenn ich auf dem Tier landen könnte, würde ich weich und nicht ganz so tief fallen.
„Jerry“, rief ich und hielt das für den besten Plan der Welt. „Jerry!“
Ein besonders schiefer Ton erschreckte den Kater – und mich. Ich purzelte aus der Röhre und fiel in die Tiefe. „Hiiiiiilfe!“
Ich strampelte und schrie, bis ich ein straffes Katzenhaar zu fassen bekam. Krampfhaft hielt ich mich daran fest. Der Ruck des unterbrochenen Falls kugelte mir beinahe die Schulter aus. Reißender Schmerz stellte sich ein. Das Haar schwang zwar leicht nach unten, blieb allerdings noch weit vom Boden entfernt. „Mist!“ Ewig würde ich mich hier auch nicht halten können.
An meinem Rücken spürte ich als Nächstes etwas Rauhes, Feuchtes. Oh nein! Ich hatte doch nicht etwa ein Schnurrhaar erwischt! Der Mundgeruch nach Katzenfutter, den ich auf einmal penetrant wahrnahm, gab mir die unliebsame Antwort. Bloß nicht umdrehen. Schnell versuchte ich in Richtung Nacken zu schaukeln. Höher, du schaffst das, redete ich mir gut zu. Einmal noch!
Absprung: Jetzt!
Relativ sanft landete ich in Jerrys Fell und beeilte mich, hinter seine Ohren zu kommen.
Da war ich fürs Erste sicher.
Mein Herz pochte wie wild, als ich mich neben einem Ohr niederließ. Das können die echt nicht mit mir machen!
„Diese Klarinette verhält sich merkwürdig, findest du nicht auch, Jerry?“
Das war eindeutig mein Sohn. Ich schaute nach oben und sah ihn, wie er die Röhre, aus der ich gefallen war, schüttelte. „Mir scheint, die war verstopft. Kein Wunder, dass die Töne so merkwürdig klangen.“

„Mary-Anne? Hörst du mich? Ich habe einen Notarztwagen gerufen, die sind gleich da!“
War das mein Mann?
„Wo ist der Kater? Nur hinter seinen Ohren ist sicher für mich …“, murmelte ich mehr zu mir selbst.
„Sogar in einer derartigen Situation denkst du nur an andere! Aber wieso sein Ohr? Oh, Mary, es wird alles gut!
Zur Abwechslung streifte mich ein kühler Luftzug.
„Hier entlang meine Frau muss wohl mit dem Küchenmesser abgerutscht sein … wahrscheinlich die Ader unglücklich getroffen dann ohnmächtig geworden.

Text: June Is, Twitter: @ypical_writer
Illustration: Geschichtenzeichnerin Celina
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