Viktor Martinowitsch: Paranoia

von | 09.04.2015 | Belletristik, Buchpranger

„Die Zeit heilt nicht etwa so gut, weil sie Menschen, die vergessen werden sollen, in Nebel auflöst. Wir erwecken sie ja wieder zum Leben und verschließen sie irgendwo in unserer Brust, päppeln sie mit Erinnerungen und ziehen uns bunte Taschenzwerge heran, die nichts mehr mit den lebenden Personen von einst gemein haben, und wir lieben diese Zwerge, bis uns ein neuer, lebendiger Mensch begegnet.“

Der Schriftsteller Anatoli und die reiche, junge und geheimnisvolle Frau Jelisaweta beginnen eine Affäre, mieten sogar eine Wohnung eigens für ihre heimlichen Begegnungen. Sie leben in einem totalitären Regime im Osten Europas und ahnen trotz Vorsichtsmaßnahmen nicht, dass jedes ihrer Worte, Laute, Geräusche nicht nur ihnen gehört, sondern die gesamte Wohnung verwanzt ist. Nach einem Streit verschwindet Jelisaweta spurlos und der Geheimdienst nimmt Kontakt zu Anatoli auf.

„Gäbe es in der Fibel neben A, B und C auch einen Buchstaben „Glück“, er müsste mit dieser Berührung illustriert werden.“

Im Dezember 2009 erschien der Roman „Paranoia“ des weißrussischen Schriftstellers Viktor Martinowitsch (*1977) und wurde kurze Zeit später in Weißrussland verboten. Schon Orwells „1984“ war erschreckend, doch in „Paranoia“ scheinen die Hauptcharaktere noch mehr im Fokus zu stehen, die Liebschaft wird auseinandergenommen, seziert, jedes Wort, jede Tat wird festgehalten, der Abfall wird untersucht, Briefe werden abgefangen – an sich nichts Neues, doch der Leser ist dabei, erlebt jedes Detail mit und das ist der kleine, formale Unterschied zu „1984“, der das Schicksal mehr ins Zentrum rückt, jegliche Intimität bloßlegt und nicht mehr nur erschreckend ist, sondern offenlegt, wie dem Menschen jegliche Würde entrissen wird. Über allem, was einem Liebespaar Bedeutung schenkt und eine Idylle kreiert – Kosenamen, Erinnerungen, Geschichten – liegt eine Komödie. Es wird ein Farce geschaffen, in welcher nichts mehr Bedeutung hat.

„Sie brauchten die Außenwelt nicht mehr, hatten sie sich doch spielerisch die ganze Welt zu eigen gemacht.“

Ein Idyll der Liebe wird von schwarzen Wolken überschattet. Es ist erstaunlich, wie der Fädenzieher des Landes, Murawjow, omnipräsent ist, die Diktatur aus jeder Pore atmet, doch dass eine Liebschaft – durchaus vergleichbar mit anderen Paaren – in ihrer peinlich, kleinlichen Auflistung des Alltags plötzlich umso größer erscheint und die Wolken selbst überschattet. Dass der Autor den Roman aus Angst zunächst nur auf seinem Telefon schrieb, ist nicht verwunderlich – so sehr verweben sich Fiktion und Realität. Es spricht nicht nur die Gefahr, der Sarkasmus erhebt den Schriftsteller zum Helden, was den Leser unaufhörlich in Atem hält. Intellektuell. Brisant. Ein grandioser Wurf!

Nicole
urwort.com

Paranoia, Viktor Martinowitsch, Thomas Weiler (Übersetzer), Voland & Quist, 2014

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