Verworrene Rundreise durch Wien und das Leben

von | 06.10.2015 | Belletristik, Buchpranger

Was haben eine verwitwete Lehrerin, ein altes Haus in der Großen Mohrengasse in Wien, Manner Schnitten und Knäckebrot, ein verrückt spielender Aufzug und ein weißes Kaninchen gemeinsam? Sie alle sind Teil des Romans „Lucia Binar und die russische Seele“ von Vladimir Vertlib, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015 gelandet ist. Worteweberin Annika hat sich auf eine Odyssee in die Große Mohrengasse mitnehmen lassen.

Alles beginnt, als die rüstige Rentnerin Lucia Binar einen ganzen Tag lang auf ihr Essen auf Rädern warten muss. Auf Nachfrage rät man ihr im Call Center, sie solle auf Manner Schnitten und Knäckebrot umsteigen. Kurz darauf steht ein Mädchen vor Lucias Tür und wirbt für eine Petition, die „Mohrengasse“ in „Möhrengasse“ umzubenennen. Als dann auch noch Obdachlose in das Mehrfamilienhaus einziehen und Lucia nachts kein Auge mehr zu bekommt, wird es ihr zu bunt. Sie will doch einfach nur in Ruhe sterben dürfen; hier, wo sie vor 83 Jahren geboren wurde.

Aber es scheint, als hätte ganz Wien andere Pläne, vor allem der Hausbesitzer Wilhelm Neff. Er will die Mehrfamilienhäuser auf der Großen Mohrengasse sanieren lassen und versucht nun, alle alten Mieter loszuwerden, darunter auch Lucia und das Mädchen mit der Petition, das sich als Junge namens Moritz entpuppt. Gemeinsam begeben sich die Seniorin und der Student auf eine Irrfahrt durch Wien, die letztlich in einer Vorstellung des russischen Magiers Viktorowitsch endet, einer russischen Seelenreise eben, in der sich manches aufzuklären scheint.

Vertlibs Roman ist manchmal verworren wie das Leben selbst. Die vielen Geschichten, die sich im Wiener Großstadtrummel kreuzen, enthüllen ein Panorama der heutigen Gesellschaft – ob nun speziell in Österreich oder in Europa allgemein. So kommen Themen wie der Umgang mit Flüchtlingen, Obdachlosigkeit, Schuld und Gerechtigkeit zur Sprache, kombiniert mit Humor und skurrilen Einfällen.

Da die Antwort auf die Frage, was all diese Einfälle miteinander zu tun haben, oft allerdings: „Nicht viel!“ lauten muss, kommt beim Lesen leider auch Verwirrung auf. Ständig springt die Erzählung zwischen Lucias Sicht, ihren Erinnerungen und der Sicht zweier Randfiguren und deren Erinnerungen hin und her, ohne dass das die Handlung vorangetrieben wird. Nicht selten wirkt das eher bemüht und konstruiert, wenn Lucia dann plötzlich auch noch kommentar- und bezugslos anfängt, Teile ihrer Memoiren zu verfassen, sogar halbherzig.

Möglich, dass der bunte Bucheinband in Kombination mit dem Titel und dem Verweis auf eine Seniorin auf Irrfahrten spätestens nach „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ gewisse Assoziationen wecken. Möglich auch, dass trotz dieser Erwartungen nicht jede Geschichte von alten Menschen so komisch, locker flockig zu lesen und herzerwärmend sein muss, wie die eben jenes Hundertjährigen. Schließlich ist es gut, wenn ein Autor seine eigenen Wege geht und etwas ganz Neues macht. Das gewisse Etwas sollte aber trotzdem nicht fehlen, und das in „Lucia Binar und die russische Seele“ zu finden, mag nicht allen so leicht fallen. Letztendlich scheint es nicht verwunderlich, dass andere Bücher als „Lucia Binar und die russische Seele“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet sind.

Lucia Binar und die russische Seele. Vladimir Vertlib. Deuticke Verlag. 2015.

 

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