Verstaubt war gestern – der Graphic Canon ist da

by Bücherstadt Kurier

Walt Whit­man als Super­held! Der Struw­wel­pe­ter, so gru­se­lig wie nie! „Stolz und Vor­ur­teil“ vor Orna­men­ten strot­zend! Dass ver­meint­lich ver­staubte Klas­si­ker der Lite­ra­tur schon längst im Gewand der Gra­phic Novel ein neues, brei­tes Publi­kum gefun­den hat, ist mitt­ler­weile bekannt. Jetzt ist bei Galiani die deut­sche Aus­gabe des „Gra­phic Canon“ erschie­nen, die nichts weni­ger ist als eine ver­dich­tete Zusam­men­stel­lung der bekann­tes­ten Werke aus über ein­hun­dert Jah­ren. Ein Who is Who der Erzähl­kunst – aber auch der Comic-Kunst. - Von Buch­stap­le­rin Maike

Der „Gra­phic Canon“ ist, soviel muss ich gleich zu Beginn geste­hen, anspruchs­vol­ler als ich erwar­tet hatte – und in sei­ner Fülle kaum zu erfas­sen. Wer glaubt, hier han­delt es sich um leichte Kost oder gut ver­dau­li­che Inhalts­zu­sam­men­fas­sun­gen, muss ent­täuscht wer­den. Zwi­schen den mas­si­ven Buch­de­ckeln ist die Liebe zur Lite­ra­tur und zum gra­phi­schen Erzäh­len zusam­men­ge­fasst, und das oft­mals in einer Form, die viel Kon­zen­tra­tion abverlangt.
Der Fokus die­ses Ban­des liegt vor allem auf lite­ra­ri­schen Wer­ken des 19. Jahr­hun­derts – 44 an der Zahl. Haupt­säch­lich Prosa und Gedichte wer­den unter die Lupe genom­men, wobei letz­tere sogar häu­fig zur Gänze abge­druckt sind. Was die­sen Band von der eng­li­schen Aus­gabe unter­schei­det, sind Bear­bei­tun­gen von deut­schen Tex­ten, die extra ange­fer­tigt wor­den sind, unter ande­rem bekommt man einen bit­ter­bö­sen, wit­zi­gen Vor­ge­schmack auf „Faust“ von Flix.

Der Auf­bau der ein­zel­nen Adap­tio­nen ist über das ganze Buch hin­weg ein­heit­lich und ver­sorgt mit den nöti­gen Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. Eine Ein­füh­rung über die jewei­li­gen Schrift­stel­le­rIn­nen, Werke und Adap­tie­ren­den geht dem eigent­li­chen gra­phi­schen Werk vor­aus. Doch da enden Gemein­sam­kei­ten: Die Adap­tio­nen vari­ie­ren in Länge, Stil und Atmo­sphäre. Man­ches kommt abs­trakt daher wie Matt Kishs fan­tas­ti­sche Inter­pre­ta­tion von „Moby Dick“ – man­ches hin­ge­gen ist eine ori­gi­nelle Zusam­men­fas­sung oder ein Aus­schnitt aus einer bestehen­den Gra­phic Novel, so etwa Jason Cobleys Adap­tion von „Fran­ken­stein“. Spie­le­risch ein­fa­ches (John Por­cel­li­nos Inter­pre­ta­tion von „Wal­den“) reiht sich ganz selbst­ver­ständ­lich ein neben düs­tere, sehr erwach­sene Kunst (Kakos Bear­bei­tung von „Ver­bre­chen und Strafe“).

Inter­es­sant zu sehen, was mit Wer­ken geschieht, die man selbst bereits kennt und liebt – und wie viel man sich über Werke, die bis­her unter dem eige­nen Radar hin­durch­ge­flo­gen sind, durch die Visua­li­sie­rung zusam­men­reimt. So trifft für mich die ver­schnör­kelte Col­lage über „Das Bild­nis des Dorian Gray“ (John Coult­hart) genau die Atmo­sphäre des Buches, wie ich es liebe – wäh­rend Eran Cant­rells Bear­bei­tung des „Jab­ber­wo­cky“ ganz neue Asso­zia­tio­nen erzeugt. Schwarze, fili­grane Sche­ren­schnitte in einem nicht abstreit­ba­ren Steam­punk-Look las­sen bei­nahe an Jump’n’Run Spiele den­ken, an das Vor­pre­schen, das Ent­ge­gen­tre­ten eines End­bos­ses. Dann wie­derum machen mich Eliza­beth Wata­sins redu­zierte Aqua­relle neu­gie­rig auf „Jane Eyre“, wäh­rend die düs­ter-ver­schmierte Optik von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Danusia Sche­j­bal und Andrzeij Kli­mow­ski) mich eher wei­ter­blät­tern lässt.
Es zeigt sich, dass auch ange­staubte Klas­si­ker modern gele­sen wer­den kön­nen, wenn nicht sogar sol­len. Mit den Augen von inter­na­tio­na­len Comic-Künst­le­rIn­nen, die ihre eige­nen Les­ar­ten visua­li­sie­ren, wer­den bekannte und fremde Werke leben­dig. Wie gut das gelingt, ist von Adap­tion zu Adap­tion ver­schie­den und hängt nicht zuletzt vom per­sön­li­chen Geschmack ab. Im sim­pels­ten Fall ist das ein­fach schön anzu­se­hen, im bes­ten Fall regt der Gra­phic Canon dazu an, die Klas­si­ker mit wachen Augen (neu) zu entdecken.

Ist es also ein Buch über die Bücher – oder ein Buch über die Comic-Kunst? Wohl bei­des. Was zusam­men­ge­tra­gen wurde, ist nicht nur ein Who is Who der Klas­si­ker, von denen man schon mal gehört haben sollte, son­dern auch ein Nach­schla­ge­werk für die Arbei­ten zahl­rei­cher Comic-Künst­le­rIn­nen. Schließ­lich steckt es schon im Titel: es gibt kei­nen gerin­ge­ren Anspruch, als ein Kanon für Lite­ra­tur gra­phi­scher Lite­ra­tur zu sein – wobei auch immer ein Augen­zwin­kern und spie­le­ri­scher Umgang dabei ist. Nur kein Staub.

The Gra­phic Canon, Band 2: Von Tri­st­ram Shandy über Jane Aus­ten bis Dorian Gray. Her­aus­ge­ge­ben von Russ Kick. Aus dem Eng­li­schen u.a. von Stef­fen Jacobs und Anja Kootz. Galiani. 2015.

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