Vernunft aus – Obsession an

von | 08.02.2018 | Belletristik, Buchpranger

„Wer etwas von der Welt erfahren will, einen Zugang zu den verborgenen Geheimnissen gewinnen, der muss durch die Tür gehen, unaufgefordert, er kann nicht warten, bis er die Erlaubnis erhält.“

Was muss passieren, damit ein selbstständiger und erfolgreicher Makler Ende vierzig sein komplettes bisheriges Leben über den Haufen wirft? Zu einem Stalker wird, da er sich einbildet, eine junge Frau Mitte 20 habe ihm das Zeichen gegeben, ihm zu folgen, obwohl sie ihn nicht einmal gesehen hat? Poesiearchitektin Lena beschattet den Verfolger der jungen Frau mit den pflaumenfarbenen Schuhen in Lukas Bärfuss‘ Roman „Hagard“.

Es ist Frühling und Philip wurde von einem Geschäftskunden versetzt. Während er an einem Brezelstand steht und die Menschenmasse beobachtet, die vollkommen gleichgültig und schleppend ihr eigenes Leben führt, entdeckt er ein Paar Schuhe, das sich flink, leicht und unbeschwert durch diese Menschen bewegt. Er ist von dieser Andersartigkeit gefesselt. Er bildet sich den Duft der Schuhträgerin ein, beobachtet sie ganz genau und ist förmlich von ihr besessen. Die Unbekannte steigt in einen Zug. Ohne lange Überlegung folgt Philip ihr ohne Fahrkarte bis zu ihrer Wohnung. Dort lässt er sich sein Auto bringen, übernachtet darin und ignoriert alles und jeden um sich herum.

Am nächsten Morgen entscheidet er sich, die junge Frau weiter zu verfolgen, statt für seine Brieftasche, die im Auto festklemmt. Ohne Geld und Papiere geht es wieder in den Zug. Als nächstes muss er den Verlust seines Schuhs hinnehmen, kann sich keinen neuen kaufen und überlegt sogar schon, Reste aus dem Müll zu essen. Der Regen wird zu einer weiteren Probe und die Leute meiden ihn. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wird Philip zusammengeschlagen und bricht sogar in ein Haus ein. Und das alles wofür?

Was steckt hinter der Nachstellung?

Der gesamte Roman handelt von Philips kurzer Geschichte. Man hat das Gefühl, drei Schritte hinter ihm zu laufen, mit ihm zu pausieren und zu genießen, einfach genau das zu tun, worauf man in dem Moment Lust verspürt. Bereits am Anfang des Romans lockt der Autor Lukas Bärfuss mit einer kleinen Übersicht darüber, was einen erwartet, weshalb man auch in den Längen des Romans am Ball bleibt und unbedingt wissen will, wie es ausgeht. Was passiert mit Philip und der Frau? Wird sie ihn bemerken? Werden sie reden? Wer ist sie überhaupt? Was soll das Ganze? Nicht nur der Inhalt ist außergewöhnlich, auch die Wahl des Ich-Erzählers ist interessant. Die Leser sehen durch Philips Augen und begleitet ihn dennoch parallel. Und zwar durch einen Unbekannten, der Philip begleitet und seine Entscheidungen kommentiert und verstehen möchte. Dieser mischt sich immer wieder in die Geschichte ein.

Dies wäre ein fabelhafter Einstieg für einen Psychothriller. Ein Mann, der angesehen und erfolgreich ist, schleicht hinter jungen Frauen her und bildet sich ein, dass sie es so wollen. Wartet vor ihrem Haus – übernachtet dort sogar. „Hagard“ von Lukas Bärfuss ist mehr als das. Ein Roman, der von Entscheidungen erzählt, die das Leben beeinflussen. Was passiert, wenn man seinen Obsessionen folgt? Das „Über-Ich“, also die Vernunft ausschaltet und dem „Es“, also seinen Trieben die Kontrolle über die kommenden Stunden überlässt? Kaum einer tut dies, jeder ist gebunden an gesellschaftliche Normen und traut sich nicht, den Kopf völlig auszuschalten. Philip aber stellt alles auf stumm, abgesehen von der geheimnisvollen Frau, und muss mit den Konsequenzen leben.

Dieses Buch mit nur 170 Seiten beschäftigt einen noch im Nachhinein. Man läuft herum und entscheidet sich ständig unbewusst für etwas und denkt nicht weiter drüber nach. Das Buch führt jedoch dazu, dass innegehalten wird und verschiedene Szenarien vor dem inneren Auge entstehen, was passiert, wenn die Entscheidung nun doch anders ausfallen würde. „Hagard“ verändert die Sicht auf das eigene Leben.

Hagard. Lukas Bärfuss. Wallstein. 2017.

„Hagard“ von Lukas Bärfuss wurde nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017.

Bücherstadt Magazin

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