Vernunft aus – Obsession an

by Poesiearchitektin Lena

„Wer etwas von der Welt erfah­ren will, einen Zugang zu den ver­bor­ge­nen Geheim­nis­sen gewin­nen, der muss durch die Tür gehen, unauf­ge­for­dert, er kann nicht war­ten, bis er die Erlaub­nis erhält.“

Was muss pas­sie­ren, damit ein selbst­stän­di­ger und erfolg­rei­cher Mak­ler Ende vier­zig sein kom­plet­tes bis­he­ri­ges Leben über den Hau­fen wirft? Zu einem Stal­ker wird, da er sich ein­bil­det, eine junge Frau Mitte 20 habe ihm das Zei­chen gege­ben, ihm zu fol­gen, obwohl sie ihn nicht ein­mal gese­hen hat? Poe­sie­ar­chi­tek­tin Lena beschat­tet den Ver­fol­ger der jun­gen Frau mit den pflau­men­far­be­nen Schu­hen in Lukas Bär­fuss‘ Roman „Hagard“.

Es ist Früh­ling und Philip wurde von einem Geschäfts­kun­den ver­setzt. Wäh­rend er an einem Bre­zel­stand steht und die Men­schen­masse beob­ach­tet, die voll­kom­men gleich­gül­tig und schlep­pend ihr eige­nes Leben führt, ent­deckt er ein Paar Schuhe, das sich flink, leicht und unbe­schwert durch diese Men­schen bewegt. Er ist von die­ser Anders­ar­tig­keit gefes­selt. Er bil­det sich den Duft der Schuh­trä­ge­rin ein, beob­ach­tet sie ganz genau und ist förm­lich von ihr beses­sen. Die Unbe­kannte steigt in einen Zug. Ohne lange Über­le­gung folgt Philip ihr ohne Fahr­karte bis zu ihrer Woh­nung. Dort lässt er sich sein Auto brin­gen, über­nach­tet darin und igno­riert alles und jeden um sich herum.

Am nächs­ten Mor­gen ent­schei­det er sich, die junge Frau wei­ter zu ver­fol­gen, statt für seine Brief­ta­sche, die im Auto fest­klemmt. Ohne Geld und Papiere geht es wie­der in den Zug. Als nächs­tes muss er den Ver­lust sei­nes Schuhs hin­neh­men, kann sich kei­nen neuen kau­fen und über­legt sogar schon, Reste aus dem Müll zu essen. Der Regen wird zu einer wei­te­ren Probe und die Leute mei­den ihn. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wird Philip zusam­men­ge­schla­gen und bricht sogar in ein Haus ein. Und das alles wofür?

Was steckt hin­ter der Nachstellung?

Der gesamte Roman han­delt von Phil­ips kur­zer Geschichte. Man hat das Gefühl, drei Schritte hin­ter ihm zu lau­fen, mit ihm zu pau­sie­ren und zu genie­ßen, ein­fach genau das zu tun, wor­auf man in dem Moment Lust ver­spürt. Bereits am Anfang des Romans lockt der Autor Lukas Bär­fuss mit einer klei­nen Über­sicht dar­über, was einen erwar­tet, wes­halb man auch in den Län­gen des Romans am Ball bleibt und unbe­dingt wis­sen will, wie es aus­geht. Was pas­siert mit Philip und der Frau? Wird sie ihn bemer­ken? Wer­den sie reden? Wer ist sie über­haupt? Was soll das Ganze? Nicht nur der Inhalt ist außer­ge­wöhn­lich, auch die Wahl des Ich-Erzäh­lers ist inter­es­sant. Die Leser sehen durch Phil­ips Augen und beglei­tet ihn den­noch par­al­lel. Und zwar durch einen Unbe­kann­ten, der Philip beglei­tet und seine Ent­schei­dun­gen kom­men­tiert und ver­ste­hen möchte. Die­ser mischt sich immer wie­der in die Geschichte ein.

Dies wäre ein fabel­haf­ter Ein­stieg für einen Psy­cho­thril­ler. Ein Mann, der ange­se­hen und erfolg­reich ist, schleicht hin­ter jun­gen Frauen her und bil­det sich ein, dass sie es so wol­len. War­tet vor ihrem Haus – über­nach­tet dort sogar. „Hagard“ von Lukas Bär­fuss ist mehr als das. Ein Roman, der von Ent­schei­dun­gen erzählt, die das Leben beein­flus­sen. Was pas­siert, wenn man sei­nen Obses­sio­nen folgt? Das „Über-Ich“, also die Ver­nunft aus­schal­tet und dem „Es“, also sei­nen Trie­ben die Kon­trolle über die kom­men­den Stun­den über­lässt? Kaum einer tut dies, jeder ist gebun­den an gesell­schaft­li­che Nor­men und traut sich nicht, den Kopf völ­lig aus­zu­schal­ten. Philip aber stellt alles auf stumm, abge­se­hen von der geheim­nis­vol­len Frau, und muss mit den Kon­se­quen­zen leben.

Die­ses Buch mit nur 170 Sei­ten beschäf­tigt einen noch im Nach­hin­ein. Man läuft herum und ent­schei­det sich stän­dig unbe­wusst für etwas und denkt nicht wei­ter drü­ber nach. Das Buch führt jedoch dazu, dass inne­ge­hal­ten wird und ver­schie­dene Sze­na­rien vor dem inne­ren Auge ent­ste­hen, was pas­siert, wenn die Ent­schei­dung nun doch anders aus­fal­len würde. „Hagard“ ver­än­dert die Sicht auf das eigene Leben.

Hagard. Lukas Bär­fuss. Wall­stein. 2017.

„Hagard“ von Lukas Bär­fuss wurde nomi­niert für den Preis der Leip­zi­ger Buch­messe 2017.

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