Verliert Ariadne den Faden?

von | 02.03.2022 | Belletristik, Buchpranger

Nach- und Neuerzählungen griechischer Mythen stehen spätestens seit „Das Lied des Achill“ hoch im Kurs. Ein feministisch nacherzählter Roman über Ariadne hat daher bei Buchstaplerin Maike große Erwartungen geweckt – die leider enttäuscht wurden.

Minos regiert grausam auf der Insel Kreta. Der Stolz seiner Insel: der monströse Minotaurus im Innern von Dädalus’ Labyrinth, dessen Hunger mit Kindern aus dem unterworfenen Athen gestillt werden muss. Doch als Theseus sich (mit ein bisschen Hilfe von Prinzessin Ariadne) in den Irrgarten wagt, kann er als Held über die Kreatur triumphieren.

Doch wo sind im alten Mythos die Frauen? Wieso wurde Minos’ Frau Pasiphaë für dessen Verbrechen bestraft? Warum musste sie wahnsinnig werden und den Minotaurus gebären? Und was ist mit ihrer Tochter, Ariadne? Wieso hilft sie Theseus, wieso will sie mit ihm von Kreta fliehen? Kurz: Wo ist Platz für sie als Menschen, statt als Werkzeuge?

„Heute würde ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich würde beweisen, dass ich es wert war, die Frau eines legendären Helden zu sein. Meine Geschichte würde nicht mit Tod, Leid und Opfern enden.” (S. 104)

All diesen Fragen geht Jennifer Saint nach, indem sie Ariadne, und später deren Schwester Phädra über den Lauf der Jahrzehnte als Ich-Erzählerinnen zu Wort kommen lässt. Dadurch gelingt es, den beiden Frauen ein komplexes Innenleben zu geben und sie ihre Welt hinterfragen zu lassen. Die Handlung folgt dem Lauf der Sage: Ariadne verliebt sich in Theseus, lässt sich von Dädalus den Faden geben, um Theseus zu helfen, und wird von ihm „zum Dank” auf einer unbewohnten Insel zurückgelassen. Dort wird sie bald die Gefährtin des Gottes Dyonisus. Doch ist er wirklich anders als die anderen Männer, die sie kennt?

„Doch waren es immer nur die Frauen, ob Dienerin oder Prinzessin, die den Preis dafür zahlten, dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit das Land zu durchstreifen, in einen schwerfälligen Bären, eine brüllende Kuh verwandelt, oder von der rachsüchtigen weißarmigen Göttin zu Asche verbrannt zu werden.” (S. 122)

Dennoch scheint es, als würde Saint nicht die Grenzen der alten Sage ausloten, wie es ihre Protagonistinnen verdienen. Aller Innensicht und Charakterentwicklung zum Trotz widerfährt ihren Heldinnen genau das, was sie kritisieren, und das lässt die Leser*innen zunehmend enttäuscht zurück. Der Eindruck verstärkt sich, dass Saint Ariadne und Phädra in veraltet scheinende (Beziehungs-)Muster und Geschlechterrollen fallen lässt, die mit dem Anspruch einer modernen Nacherzählung konkurrieren. Auch die teils sperrige Sprache und Zeitsprünge lassen die Leser*innen mitunter schwer in die Geschichte kommen.

„Diese Männer, diese Götter, die mit unseren Leben spielten und uns einfach wegwarfen, wenn sie uns nicht mehr brauchten, die über unser Leid lachten und dann vergaßen, dass es uns je gegeben hatte.” (S. 138)

Wer sich für historische und mythologische Frauenleben interessiert, wird „Ich, Ariadne” dennoch etwas abgewinnen können. Das Buch ist zwar nicht das feministische Glanzstück, das ich mir erwartet habe, bietet aber dennoch neue Perspektiven auf alte Sagen und regt zum Nachdenken über Wahrheit, Legende und die Macht der Erzählung an.

Ich, Ariadne. Jennifer Saint. Aus dem Englischen von Simone Jakob. List. 2021.

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