Unter der Lupe: Zum wilden Mann

von | 05.07.2015 | Belletristik, Buchpranger

Wilhelm Karl Raabe (1831-1910) war ein deutscher Schriftsteller und einer der wichtigsten Vertreter des poetischen Realismus. Erst vom Publikum totgeschwiegen, dann missverstanden – sein Werk ist voller Gesellschaftskritik und Mehrdeutigkeit. Zeichensetzerin Alexa hat seine Novelle „Zum wilden Mann“ mal unter die Lupe genommen.

Man könnte sich die Einführung in die Novelle Wilhelm Raabes „Zum wilden Mann“ wie eine Kamerafahrt vorstellen: langsam folgen wir den Beschreibungen, ein Schwenk vom Weg hin zum Haus zeigt uns die Welt, in der die Geschichte stattfindet. Dabei nimmt der Erzähler seine Leser mit durch den Regen und führt sie in die Apotheke: „Schon hat der Erzähler die Tür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler den Türgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter ihm und dem Leser die Tür zugeschlagen, daß das ganze Haus widerhallt […].“ (S. 5)

Philipps Geschichte

Während es draußen stürmt, herrscht drinnen Behaglichkeit. Doch der Schein trügt. Die Geschichten, die an diesem Abend erzählt werden, sind alles andere als angenehm, vielmehr verursachen sie bei den Protagonisten Beklemmung. Philipp Kristeller, der Besitzer der Apotheke „Zum wilden Man“, feiert an diesem Abend das 30jährige Bestehen eben dieser und hat dazu seine Freunde eingeladen. Nun möchte er ihnen erzählen, wie er in den Besitz der Apotheke gekommen ist. Feierlich trinken sie den von Philipp erfundenen Schnaps „Kristeller“ und lauschen seinen Worten.
Philipp erzählt, wie er Johanne kennenlernte und sie heiraten wollte, aber aus finanziellen Gründen nicht konnte, und wie er dem geheimnisvollen August begegnete. Dieser hieß nicht wirklich „August“, doch da Philipp seinen richtigen Namen nicht herausfinden konnte und ihn im Monat August getroffen hat, nannte er ihn fortan genauso. Schon damals erschien ihm dieser Mann seltsam, doch zu naiv und gutgläubig war Philipp, um die Gefahr, die von ihm ausging, zu erkennen. Als Philipp ihm zuletzt auf dem „Blutstuhl“ (eine Felsformation im Harz) begegnete, war August nicht mehr richtig bei Sinnen. Bevor sich ihre Wege scheinbar endgültig trennten, erhielt Philipp einen Umschlag mit Geld. Philipp mochte es nicht annehmen, doch Johanne riet ihm zur Nutzung des Geldes. Auf diese Weise könnten sie ihre Heirat finanzieren. Allerdings hielt das Glück nicht lange, denn am Tag der Hochzeit starb Johanne aus unerklärlichen Gründen. Darauf erwarb Philipp die Apotheke „Zum wilden Mann“ und wird seitdem unterstützt von seiner Schwester Dorothea.

Agostins Geschichte

Als Philipp seine Geschichte beendet hat, sitzen sie noch eine Weile da. Doch schon bald betreten zwei Gäste die Apotheke: der Landphysikus Dr. Eberhard Hanff und Kolonel Dom Agostin Agonista. Dass es sich hierbei um niemand geringeres handelt als August, stellt Philipp schnell fest, wagt es jedoch nicht, ihn darauf anzusprechen. Nun erzählt Agostin seine Geschichte: dass er in die Fußstapfen seiner Vorfahren als Scharfrichter trat und einen Menschen tötete, darauf aber ein so schlechtes Gewissen hatte, dass er sich für einen anderen Lebensweg entschied. Bevor er auf dem Schiff „Diablo Blanco“ („Weißer Teufel“) landete, wo er im Feuer stand und von einem „Teufels-Arzt“ geheilt wurde, vollführte er auf dem „Blutstuhl“ einen Veitstanz. Agostin erzählt noch von vielen weiteren Abenteuern, welche jedoch nicht näher beschrieben werden: „Was dieser wunderliche Erzähler jetzt zu erzählen hatte, war freilich bunt genug und voll Feuerwerk und Geprassel zu Wasser und Lande; allein das alles war doch schon von anderen hunderttausendmal erlebt und mündlich oder schriftlich, ja sogar dann und wann durch den Druck mitgeteilt worden.“ (S. 65)

Teufelspakt?

Nachdem sich Philipp und Agostin ausgesprochen haben, beschließt Agostin eine Weile zu bleiben. Während es die Dorfgemeinschaft spannend findet, dass hier endlich einmal etwas passiert, sind die Schwester und der Pastor skeptisch. In der Nähe von Agostin fühlen sie sich unwohl. Unbegründet ist das Gefühl aber nicht: bald gibt Agostin zu, sein Geld zurückhaben zu wollen. Kristeller, der bis zum Ende gutgläubig bleibt, geht darauf ein, verkauft sein Hab und Gut und zahlt das Geld, das er einst von Agostin erhalten hat, mit Zinsen wieder zurück. Obendrein erhält Agostin das Rezept für den „Kristeller“, mit dem er im Ausland Profit schlagen kann. Philipp und Dorothea leben fortan in Armut und können doch niemandem erzählen, was wirklich vor sich gefallen ist.
Immer wieder wird in der Erzählung auf den Teufel verwiesen und Worte wie „Feuer“, „Seele“, „Rot“ und „Menschenalter“ werden wiederholt. Agostin begegnet einem „Teufels-Arzt“, befindet sich auf dem Schiff „Diablo Blanco“ und freut sich über die Anwesenheit von Fliegen, welche in der Bibel auf den Teufel verweisen. Merkwürdigerweise legt sich auch der Sturm, als Agostin die Apotheke betritt, so als hätte das Wetter die Ankunft des „wetterfesten“ Agostin angekündigt. Und kurz nachdem Philipp das Geld annimmt, stirbt seine Verlobte – als Austausch? Könnte man hier von einem Teufelspakt sprechen? Im Text wird dies nicht explizit geäußert, es werden nur immer wieder Andeutungen gemacht, die darauf angelegt sein könnten, es aber nicht müssen. Stets findet sich – auch im Text – ein dezentes Gegenargument.

Die Vielschichtigkeit dieser Novelle ist zweifellos. Allein die Handlung ist sowohl von der Struktur als auch inhaltlich so komplex, dass viele Worte notwendig sind, um einen Umriss dessen zu geben, was einen erwartet. Dabei hat die Novelle nur 105 Seiten. Eine tiefere Interpretation würde hier gänzlich den Rahmen sprengen, weshalb ich an dieser Stelle nur allen Interessierten ans Herz legen kann, diese Novelle zu lesen. Allein zur Betrachtung der hier enthaltenen Symbolik lohnt sich diese Lektüre allemal – auch wenn es sich bei dieser um keine leichte Kost handelt.

Wilhelm Raabe

Raabe scheiterte bei dem Versuch, das Abitur zu schaffen. Da ihm die Universitätsreife nicht zuerkannt wurde, begann er selbständig zu studieren. Dazu ging er im Jahre 1854 als Gasthörer an die Universität Berlin, wo er Vorlesungen zu Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichtswissenschaften besuchte. In Berlin schrieb er auch sein erstes Werk „Die Chronik der Sperlingsgasse“, das 1856/1957 veröffentlicht wurde.
Von 1862 bis 1870 durchlebte Raabe eine geistige Entwicklung: In Stuttgart lernte er Friedrich Theodor Vischer, Ferdinand Freiligrath und Eduard Mörike kennen. In dieser Zeit entstanden wichtige Werke, beeinflusst von Beziehungen und Freundschaften, die er damals pflegte.

Das Werk Raabes war „Kritik an der Zeit, und der kritische Poet ist zu allen Zeiten ein unwillkommener Mahner.“ Lange Zeit wurde er von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, bis man in den 90er Jahren begann, „ethische Lebenshilfe“ bei ihm zu suchen. Erst wurde er missachtet, dann begann das Missverstehen seiner Werke. Ab 1910 wurde Raabes Werk wiederentdeckt, doch wurde es zunehmend missverstanden: Es ging weniger um die Interpretation des eigentlichen Werkes als um das Verstehen der Zeit zwischen 1910 und 1945. Eine ästhetische Aussage wurde als ethische Aussage angenommen, sodass in Raabes Werk faschistisch-nationalistische Elemente hineingelesen wurden. So sei Raabes „Botschaft“ angeblich gegen u.a. „Weltjudentum“ und „russisches Untermenschentum“ gerichtet (Hahne, 1942, S. 116).
Dabei hatte Raabes Werk nichts damit gemein – hier trafen zeitliche, örtliche und personelle Gegebenheiten aufeinander, die in einem anderen Zusammenhang missbraucht wurden. Erst nach 1945 distanzierte man sich von solchen Fehldeutungen und begann eine objektivere Betrachtung seiner Werke.

Die Feuilletöne sprachen in ihrer gestrigen Sendung über den „poetischen Realismus“, die Bürgerlichkeit und Zeitlosigkeit. Was sie von Raabes Novelle „Zum wilden Mann“ halten, erfahrt ihr hier.

Literatur:
Raabe, Wilhelm; Hrsg.: Dunker, Axel: Zum wilden Mann. 1959. Reclam.
Helmers, Hermann: Wilhelm Raabe. Stuttgart. 1968. Metzler.

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1 Kommentar

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    Danke für Ihre Empfehlung! Ich habe Zum wilden Mann schon zweimal gelesen. Es gibt viel zu entdecken. Überhaupt: Gut, daß wir den Raabe haben!

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