Ungreifbare Geschichte

von | 02.04.2018 | Kreativlabor

Foto: Wortklauberin Erika

Ricarda blickte durch die Schießscharte und seufzte. Vor sieben Jahren war sie von der spannenden Geschichte und dem Versprechen, irgendwann selbst Führungen zu übernehmen, auf die Burg Falkenstein gelockt worden. Die Realität sah leider ganz anders aus: In einem kleinen Büro verkaufte Ricarda Eintrittskarten, Postkarten und Bücher an Touristen. Definitiv nicht die Arbeit, die sie sich vorgestellt hatte.
Sie legte die Stirn gegen den kalten Stein.
Lass Mannie das mal machen, der kennt sich aus, das war der Lieblingssatz ihres Chefs, der ‚der Neuen‘ nichts zutraute.
Mannies Führungen waren langweilig. Am Anfang war Ricarda die Tour mitgelaufen, um gegebenenfalls Fragen dazu beantworten zu können und ihr und einigen Besuchern wären mehrmals beinahe die Augen zugefallen. Trotzdem war die Burg in den Sommermonaten gut besucht, wahrscheinlich aber nur wegen der Legende des verschollenen Burgherrn, Richard von Falkenstein. Auch sie war davon fasziniert. Viele ihrer Arbeitsstunden verbrachte Ricarda damit, über diese Legende Nachforschungen anzustellen, las Bücher und nahm diese in die Auslage auf. Sie hatte Mannie sogar ein paar Hinweise daraus für seine Führung gegeben, doch warum sollte er auch auf ‚das junge Ding aus der Stadt‘ hören?
Ricarda versuchte sich seit einer Weile an einem eigenen Buch, aber sie kam nicht weit, alles hörte sich an wie schon mal dagewesen und Mannie war ihr keine Hilfe. Bestenfalls würde der seinen Namen unter ihr Buch setzen …

„Eine schöne Aussicht“, sprach sie plötzlich jemand an.
Ricarda zuckte zusammen und stieß sich die Stirn an der Mauer.
„Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, kam die aufrichtige Entschuldigung.
Mit verzogenem Gesicht rieb sich Ricarda den schmerzenden Kopf und drehte sich um. Ihr Blick fiel auf ein paar Lederstiefel und sie stutzte. Die waren alles andere als modern, eher etwas, was sie auf einem Mittelaltermarkt erwartete. Auch die restliche Kleidung wirkte alt, als ob … War er in Gewandung auf die Burg gekommen? Hin und wieder erlaubte der Chef es Schaustellergruppen, ihre Veranstaltungen hier oben abzuhalten, aber soweit sie wusste, fand gerade keine statt. Als Ricarda in das Gesicht des Mannes blickte, lächelte er ihr freundlich zu, seine blauen Augen strahlten regelrecht im Schein der Sonne.
„Tut mir leid“, wiederholte er sanft.
„Schon okay, ich war in Gedanken …“, winkte Ricarda ab und konnte nichts gegen das Lächeln tun, das sich auch in ihrem Gesicht ausbreitete. Die Situation war einfach zu albern. Ricarda nahm die Hand von der Stirn. „Sind Sie Teil einer Reisegruppe? Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie versucht professionell.
„Ich denke, ja, daher wollte ich mit dir sprechen“, erwiderte er sogleich.
„Worum geht es denn?“, antwortete Ricarda, die Vertrautheit ignorierend.
„Dein Buch.“
Mit offenem Mund starrte Ricarda ihn an. „Wie- was- woher weißt du von meinem Buch?“
Ohne auf ihre Frage einzugehen, sprach er weiter: „Das, was du bisher geschrieben hast, ist gut, aber du brauchst etwas mehr … Authentizität, verstehst du?“, und gestikulierte dabei ausschweifend.
Ricarda legte die Stirn in Falten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte sie irgendwann das Dokument auf dem Rechner offen gelassen?
„Oh, natürlich, ich hätte mich vorstellen sollen: Richard von Falkenstein. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Er hielt ihr seine Hand entgegen.
Ricarda schaute ihn misstrauisch an, dann erwiderte sie die Begrüßung. Doch als sie zugreifen wollte, griff sie ins Nichts, lediglich heller Rauch umspielte ihre Finger.
„Tut mir leid, ich dachte, so glaubst du mir eher“, gab Richard zu und zog seine Hand zurück, die bald darauf wieder normal aussah.
„Du-du-du-“, begann Ricarda und wich von ihm zurück, bis ihr Rücken gegen die Mauer stieß.
„Bist ein Geist“, half er ihr auf die Sprünge. „Ja, das bin ich und ich möchte, dass du meine Geschichte aufschreibst“, erklärte er ihr und machte einen Schritt auf sie zu. Ihr wurde schwarz vor Augen.

„Hey! Während der Arbeit wird nicht geschlafen!“, hörte Ricarda eine knarzige Stimme neben sich und die Welt schwankte mit dem unsanften Versuch, sie zu wecken.
Anstelle des Geists hockte Mannie neben ihr und schaute sie amüsiert an.

Kurz danach war Ricarda auch schon wieder in ihrem Trott, aber die merkwürdige Begegnung ließ sie nicht los. Ihren Kopf in die Hände gestützt, rief sie sich diese in Erinnerung, um zu begreifen, ob es nicht doch nur ein Hitzetraum gewesen war.
„Störe ich?“, riss eine sanfte Stimme sie aus ihren Gedanken und sie blickte auf.
Da stand er: Richard von Falkenstein. War sie wieder eingeschlafen?
„Bitte nicht wieder ohnmächtig werden“, bat er mit flehendem Ausdruck im Gesicht und ausgestreckter Hand.
Ein lautes Lachen brach aus Ricarda hervor und mit einem Kopfschütteln beruhigte sie sich wieder. „Das darf doch wohl nicht wahr sein …“, murmelte sie und rieb sich die Augen, doch der Geist verschwand nicht. „Du bist echt.“
„Ja, könnten wir nun über dein Buch sprechen?“, wechselte er sogleich das Thema. In seiner Stimme schwang Erheiterung, aber auch Ernsthaftigkeit.
„Du willst mir helfen mein Buch zu schreiben. Warum nicht einem Forscher?“, versuchte Ricarda ein plausibleres Thema.
„Weil die mich nicht hören konnten“, offenbarte Richard niedergeschlagen. „Ich habe sie beobachtet und versucht, ihnen Hinweise zu geben, aber niemand außer dir hat mich bisher verstanden“, erklärte er weiter. „Ich möchte, dass endlich die Wahrheit über meinen Tod aufgedeckt wird -“ Richard stoppte und sah zu Boden, fast flüsternd fügte er hinzu: „Und vielleicht werde ich dann endlich erlöst.“
Ricarda betrachtete den Geist und wusste, dass sie ihm helfen musste. „Na dann schieß mal los“, forderte sie, nachdem sie ein Textdokument geöffnet hatte.

Freudestrahlend begann Richard zu erzählen, während ihre Finger über die Tastatur flogen. Von seinem Vetter und wie sie beide die gleiche Frau liebten und wie er herausfand, dass sie nur seinen Titel wollte. Doch weiter kam er nicht.
„Was schreibst du da?“, fragte Ricardas Chef neugierig und hatte schon den Tisch umrundet bevor sie das Dokument verkleinern konnte.
Ricarda erahnte bereits die abfällige Bemerkung.
„Fanfiction?“, kam diese auch sogleich.
„Nein, ich-“, versuchte sie sich zu erklären, aber ihr Chef wollte nichts davon hören.
„Ach komm, mach Feierabend, das kannst du auch Zuhause weitertipseln“, winkte er ab und ließ sie allein.
„Wie soll ich deine Geschichte aufschreiben, wenn mir niemand glaubt? Wie soll ich sie beweisen?“ Genervt schloss sie das Dokument, schaltete den Rechner aus und zog sich an. Richard versuchte, sie zu beruhigen, aber sie hörte ihm nicht zu.

Zuhause verscheuchte sie zunächst alle Gedanken an das Geschehene, doch dann packte sie es wieder und sie fing an, ihre Bücher nach einer Lösung zu durchforsten.

Am nächsten Morgen erwartet Richard sie bereits hoffnungsvoll.
„Ich habe nachgedacht, wie wir meine Geschichte beweisen können“, eröffnete er ihr, worauf Ricarda nur ein knappes: „Ich auch“ erwiderte.
„Mein Tagebuch“ – „Dein Skelett“, sagten sie gleichzeitig.
„Was?“- „Oh.“ Beschämt sahen die beiden zur Seite.
„Weißt du, wo du begraben bist?“, fragte Ricarda vorsichtig.
„Nein“, gab Richard zu und ihre Hoffnung schwand. Doch dann sagte er: „Aber ich weiß, wo mein Tagebuch sein müsste.“
„Gut, dann brauchen wir jetzt nur noch fachliche Unterstützung …“ Ricarda zog ein Buch aus dem Regal und drehte Richard die Rückseite mit dem Autorenfoto entgegen. „Das ist Alexandra Bodenthal. Sie ist eine renommierte Historikerin und Archäologin, die sehr an deiner Geschichte interessiert ist. Was meinst du?“
Richard nickte freudestrahlend.

Die Forscherin war schnell überzeugt und selbst Ricardas Chef war damit einverstanden, dass Ricarda sie betreuen würde. Die Tage bis zu ihrer Ankunft nutzte Ricarda dafür, Richards Geschichte aufzuschreiben.

Skeptisch folgte Alexandra Ricardas Ausführungen und las sich Teile der Geschichte durch. Erst als sie sich auf den Gedanken einließ, dass es den Geist des verschollenen Burgherrn wirklich gab, konnte auch sie ihn sehen. Ohne Zögern stimmte sie daraufhin dem Plan zu.

Richard führte sie in sein altes Schlafgemach, das mittlerweile umgebaut worden war. Die Stelle, auf der einst sein Bett gestanden hatte, war frei und so kamen sie gut an die ehemals darunterliegenden Bodenleisten heran, auch wenn Ricarda dafür ein Brecheisen besorgen musste. Als sie die Holzbretter gelöst hatten, fanden sie tatsächlich das Tagebuch, zerbrechlich und vergilbt, aber erhalten.
Vorsichtig nahm Alexandra es heraus und las den letzten Eintrag vor: „Zum Dank, dass ich Mechthild entsagte, lud Wilhelm mich zur Jagd. Wir werden morgen in den Wald ziehen, um Wild zu schießen -“
„Ich weiß es wieder …“, entfuhr es Richard und die beiden Frauen blickten zu ihm hinauf. „Wir sind ausgeritten. Auf dem Rückweg hat mich etwas am Kopf getroffen …“, unwillkürlich strich er über die Stelle, „und als ich aufwachte, war ich in einer Kammer im Weinkeller und kam nicht mehr heraus!“
„Dann hätte man dich schon längst gefunden, da ist nur eine Abstellkammer“, widersprach Ricarda.
„Bitte, lasst uns nachsehen! Vielleicht erinnere ich mich an mehr!“, flehte Richard sie an und die beiden Frauen gaben nach.

Im Weinkeller stellte er sich einige Meter neben die in die Wand eingelassene Tür.
„Hier“, verkündete Richard. Alexandra begann die Wand abzuklopfen. Das Brecheisen würde ihr hier nicht helfen. Kurzerhand schickte sie Rebecca zur Restaurierungswerkstatt, um Hammer und Meißel zu besorgen. Erst vorsichtig, dann kräftiger bearbeitete sie die Ritzen zwischen den Steinen, bis sich einer von ihnen löste und laut polternd zu Boden fiel. Alexandra klopfte auf das Material, das dahinter zum Vorschein kam und bestätigte: „Holz.“
Ein leises „Danke“ ließ die beiden herumfahren, aber Richard war bereits verschwunden.
„Wir haben’s geschafft!“ Ricarda lachte freudig auf.
Alexandra stimmte ein und schloss die jüngere Frau in die Arme.
Sie hatten nicht nur das größte Geheimnis der Burg gelüftet, sondern auch einen rastlosen Geist befreit.
Das sollte Mannie ihr erstmal nachmachen.

Anne Zandt / PoiSonPaiNter
Foto: Wortklauberin Erika

Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 29.

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1 Kommentar

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    nette idee und überzeugend geschrieben, habe ich sehr gerne gelesen 🙂

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