Unerwartete Begegnung

von | 10.05.2018 | Kreativlabor

Zaghaft strich Boumin mit seinen kleinen Fingern über eins der großen Blätter des alten Baumes, auf dem er saß. Grün und kräftig leuchtete es in den ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages. Die Luft roch nach nassem Gras, nach Erde und alter Baumrinde – er liebte diesen Duft. Zufrieden lehnte er sich gegen den Stamm des Ahornbaumes und ließ ein Bein über den Rand des Astes baumeln. Obwohl es früher Morgen war, fror er nicht. Die Sonne schien warm vom Himmel und er genoss die Stille, kurz bevor die ersten Vögel zu singen begannen. Ein Eichhörnchen hüpfte an ihm vorbei, hielt kurz inne, schnupperte irritiert und verschwand dann aus seinem Blickfeld. Er kicherte leise. Aufgrund seines grünen Körpers war er für jegliche Tiere des Waldes nahezu unsichtbar, da er zwischen den Blättern der Bäume mühelos verschwand. Doch sein Geruch verschwand dadurch natürlich nicht und genau das schien sie zu verunsichern.
Nicht selten machte Boumin sich einen kleinen Spaß daraus, die Tiere ein wenig durcheinander zu bringen, indem er mit Blütenpollen oder weichen Grasbällen nach ihnen warf, um sich dann schnell wieder zwischen den Blättern zu verstecken. Die Ältesten hatten ihn schon oft dafür getadelt. „Unsere Aufgabe ist es, uns um das Leben im Wald zu kümmern, nicht es zu verschrecken!“, hatten sie gesagt und nur die Köpfe geschüttelt. Ihre langen Bärte, die schon langsam braun wurden, hatten dabei geraschelt wie altes Herbstlaub. „Wir sind die Waldgeister.“ Wie er diesen Satz hasste. Als wüsste er das nicht selbst. Seit dem Tag seiner Geburt hatte er nichts anderes gehört. Es war die erste Geschichte, die kleine Waldgeisterkinder hörten, sobald sie aus ihren Nesthöhlen gekrochen kamen. Das konnte ungemein anstrengend sein. Oft wünschte er sich, er könnte dem Gefasel der alten Männer irgendwie entkommen.
Auch heute war er deshalb heimlich aus dem Zelt geschlichen, als die Ältesten zur morgendlichen Versammlung gerufen hatten, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Ungesehen war er die Treppen des Turms hinuntergeklettert, in dem sein Volk wohnte, seit er denken konnte und deren Stufen wie Zähne aus dem alten Gemäuer ragten, umgeben von Sträuchern und Wildblumen. Über die grasbewachsene Lichtung war er dann in die schützende Ruhe der Bäume geflüchtet. Hier würde ihn für die nächsten Stunden niemand finden und er konnte in Frieden seinen Gedanken nachhängen. So dachte er zumindest.
Träge schweifte sein Blick über die umliegenden Baumspitzen und er spürte, wie eine wohlige Müdigkeit ihn erfasste. So ließ es sich leben. Langsam fielen ihm die Augen zu, als plötzlich ein lautes Knacken die morgendliche Stille des Waldes durchbrach und ihn jäh aus seinen Tagträumen riss. Verärgert sprang er auf. Wer störte seine wohlverdiente Ruhe? Flink krabbelte er an die Spitze seines Astes, und lugte vorsichtig durch die Blätter nach unten. Er hatte ein Reh erwartet oder ein Wildschwein, das sich auf der Suche nach Nahrung gnadenlos seinen Weg durch das Dickicht bahnte. Was er aber dort am Fuße seines Baumes erblickte, ließ ihn erschrocken nach Luft schnappen. Diesem Wesen, das sich mit lautem Schnaufen auf dem Boden niederließ und müde sein rotblondes Haar aus der Stirn strich, war Boumin noch nie zuvor begegnet. Nichtsdestotrotz kannte er diese Art aus den Geschichten der Ältesten. Geschichten über sogenannte Zweibeiner, die außerhalb des Waldes wohnten und vor langer Zeit den Turm erbaut hatten, in dem sein Volk nun lebte. Doch seit den ersten Tagen der Ältesten war keins dieser Wesen je hier aufgetaucht. Es hieß, ein alter Zauber schütze den Wald und seine Bewohner vor ihnen und den Gefahren, die sie mit sich brachten. Wie hatte dieser es also geschafft, bis hierher vorzudringen?
Boumin warf einen kurzen Blick nach Westen. Nicht weit entfernt befand sich sein Volk mitten in der morgendlichen Versammlung in Sicherheit und er hockte hier, allein, mitten im Wald, während sich unter ihm eines der gefährlichsten Wesen, von denen er je gehört hatte, an seinen Baum lehnte. Unschlüssig kratzte er sich an dem grünen Flaum an seinem Kinn. Sollte er umkehren und sein Volk warnen? Sein Kopf sagte ihm, dass er schleunigst den Weg nach Hause nehmen sollte, doch seine Neugier ließ ihn nicht gehen.
Noch war der Zweibeiner weit entfernt vom Turm. Boumin konnte ihn also noch eine Weile beobachten, und selbst dann blieb ihm noch genügend Zeit, um vor ihm am Turm zu sein. Fasziniert schaute Boumin nun also zu, wie der Zweibeiner aufstand und seinen Weg durch das Unterholz fortsetzte. Dabei fluchte dieser immer wieder leise, wenn ihn ein Ast in die Beine oder eine der Mücken in die Arme stach. Ein seltsames Wesen. Boumin kicherte und kletterte auf den nächsten Ast. So folgte er dem Zweibeiner immer weiter in den Wald hinein. Er fragte sich, warum er wohl hier war. Suchte er etwas? Oder hatte er sich nur verirrt? Boumin hoffte inständig, dass sein Ziel nicht der Turm war. Er wollte sich nicht vorstellen, wie die Ältesten darauf reagieren würden. Oder darauf, dass er nicht sofort zu ihnen geeilt war. Diesen Gedanken verdrängte er lieber sofort.

Nach einer Weile machte der Zweibeiner schließlich an einer Birkengruppe Halt und griff in den Tiefen seiner Kleidung nach etwas, das er sich an den Mund setzte. Gespannt beugte sich Boumin auf seinem Ast vor, um besser sehen zu können. Und genau das hätte er lieber nicht getan. In seiner Neugier verlagerte er sein Gewicht immer weiter nach vorn und versuchte zu erkennen, was der Zweibeiner da in der Hand hielt. Und bevor er sich versah, hatte er auch schon das Gleichgewicht verloren und landete mit einem spitzen Schrei auf dem Boden im Unterholz.
Zum Glück landete er weich auf Moos und Blättern. Erschrocken und leicht benommen blieb er einfach dort liegen. Im nächsten Moment beugte sich eine dunkle Gestalt über ihn und tippte ihn sanft mit dem Finger an. Einmal. Zweimal. Boumin war wie erstarrt. Über ihm kniete der Zweibeiner in seiner vollen Größe. Er beäugte Boumin skeptisch, so als ob er nicht recht wusste, wen oder was er da vor sich hatte. Unsicher sah er sich um. Boumin nutzte den Moment, stieß einen Schrei aus und sprang hektisch ins nächste Gebüsch. Der Zweibeiner zuckte zusammen. „Hey“, rief er aus. „So warte doch!“ Doch Boumin tat ihm den Gefallen natürlich nicht. So weit wie möglich kroch er in das schützende Dickicht, das ihn vor den Blicken des Zweibeiners verbarg. Was sollte er jetzt nur tun? Er war diesem Wesen so gut wie schutzlos ausgeliefert. Nicht mal um Hilfe rufen konnte er. Wer würde ihn schon retten? Er glaubte nicht, dass einer der Ältesten auch nur eine Träne um ihn weinen würde.
Mit bangem Blick beobachtete er, wie der Zweibeiner mit beiden Armen versuchte, die Äste vor ihm auseinanderzuschieben. Mit wenig Erfolg, wie Boumin nun doch triumphierend feststellen musste. Vielleicht gab es noch Hoffnung. Erneut hörte er wie der Zweibeiner zu fluchen begann und sich auf den Boden fallen ließ. Misstrauisch sah Boumin ihn an. Was hatte er nur vor? Wollte er darauf warten, dass er herauskam, um ihn dann wie eine Ameise unter seinen riesigen Füßen zu zerquetschen? Oder wollte er ihn doch lieber aushungern lassen? Bei dem Gedanken daran schnürte ihm die Angst die Kehle zu und er wünschte, er hätte den Turm heute Morgen erst gar nicht verlassen.
Mit pochendem Herzen wartete er darauf, dass etwas passierte. Einige Minuten lang geschah nichts, der Zweibeiner rieb sich nur mehrmals über die gerötete Haut und seufzte. Irgendetwas an ihm war seltsam, Boumin wusste nur nicht genau, was. Doch je länger er in seinem Versteck ausharrte und den Zweibeiner beobachtete, desto mehr musste er zugeben, dass dieses Wesen im Prinzip nur halb so gefährlich aussah, wie ihn das die Geschichten der Ältesten hatten glauben lassen. Wenn Boumin ehrlich war, wirkte dieses hier eher traurig und müde. Woher wusste er eigentlich, dass Zweibeiner ihm wirklich Böses wollten? Genau, von den Ältesten. Und wann hatten sie jemals einen zu Gesicht bekommen? Oder einem gegenüber gestanden? Eben, noch nie. Das gab den Ausschlag.

Boumin atmete tief ein. Einen Versuch war es doch wert. Er mochte gar nicht daran denken, dass ihm vielleicht auch nur dieser eine blieb. Vorsichtig und sichtlich nervös gab er also seine Deckung auf und kroch mit zitternden Beinen aus seinem Versteck. Noch nie hatte er solche Angst gehabt. Einer Eingebung folgend griff er nach einem abgebrochenen Ast und fühlte sich sofort etwas sicherer, obwohl er wusste, dass er damit nichts würde ausrichten können. Der Zweibeiner hob den Kopf, als Boumin sich ihm zaghaft näherte, die Spitze des Stocks zitternd auf ihn gerichtet. Beide fixierten einander und Boumin lauerte auf jede ungewöhnliche Bewegung. Schließlich hob der Zweibeiner einen Finger. Mit einem Aufschrei schlug Boumin mit dem Stock danach. „Au!“, entfuhr es seinem Gegenüber und der Zweibeiner zog die Hand wieder zurück. „Bitte“, sagte er rau. „Ich will dir nichts tun. Ich kann es nur nicht glauben. Es gibt euch wirklich.“
Boumin verstand zwar kein Wort, doch er hörte das Erstaunen in der Stimme des Zweibeiners. Mutig, wie er fand, machte er einige weitere Schritte auf ihn zu und berührte leicht dessen Knie. Was soll‘s, dachte er und sah hoch in das große Gesicht über ihm, aus dem ihn leuchtende Augen anstarrten. Etwas unbehaglich fuhr Boumin sich durch die grünen Haare. Beinahe ehrfürchtig hob der Zweibeiner die Hand. Boumin ging in Kampfstellung. Doch sein Gegner lachte und anstatt nach ihm zu greifen, winkte er nur. „Hallo, kleiner Kerl. Mein Name ist Felix“, sagte er und lächelte. Verblüfft ließ Boumin seine Waffe sinken. Sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht in Gefahr war. Also tat er es dem Zweibeiner gleich: Er winkte. Das gefiel ihm. Was würden nur die Ältesten sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnten, dachte er und musste grinsen. Was schon, sagte er sich selbst. Er war ein Waldgeist, seine Aufgabe war es, sich um das Leben im Wald zu kümmern. Und genau das tat er doch.

Text: Mirjam Schmidt
Foto: Satzhüterin Pia

Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 30.
Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner