Über Freundschaft und Verlust: „Der Mauersegler“

von | 18.11.2021 | Belletristik, Buchpranger

Nach dem vielfach gelobten Debüt „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber hat sich Satzhüterin Pia auf den zweiten Roman „Der Mauersegler“ gefreut. Die Geschichte über eine besondere Freundschaft und ihr bestürzendes Ende ist ernster als ihr Vorgänger – und erneut sehr gelungen.

Prometheus, der Protagonist, ist auf dem Weg gen Norden. Rasant wie die eigenen Gedanken lenkt er seine schwarze „Arztkutsche“ durch Norddeutschland nach Dänemark und scheitert schließlich bei dem Versuch einfach ins Meer zu fahren. Eine alte Frau mit einem Pony trifft auf den völlig fertigen Mann und sammelt ihn zusammen mit ihrer Ehefrau auf. Trotz seiner Angst vor Pferden beginnt für Prometheus eine Ponyhof-Auszeit bei dem Ehepaar Aslaug und Helle voller Aufarbeitung intensivster Gefühle und schmerzhaftester Erinnerungen – und die Auszeit ist damit längst nicht so idyllisch, wie sie erst einmal klingt.

Wirbelnder Sog

Leser:innen werden von Anfang an in die stürmische Gefühlswelt des Arztes mit dem ungewöhnlichen Namen geworfen, dessen bester Freund Jacob gerade gestorben ist. Wir fühlen seinen Schmerz und seine Schuld, aber erfahren erst nach und nach über Rückblicke und Geständnisse, wo der Ursprung für eine derartig schuldbehaftete Lebenskrise liegt. Ein besonderer Sog entsteht durch die Zeitsprünge sowie durch Tempowechsel beim Erzählen. Im Jetzt, auf dem Hof in Dänemark, scheint die Zeit manchmal fast stillzustehen, ehe Prometheus‘ verzweifeltes Gedankenkarussell alles durcheinanderwirbelt. Rückblicke in die Kindheit der beiden besten Freunde plätschern friedlich vor sich hin, wirken unbeschwert, selbst wenn es um den Tod des Hundes von Prometheus geht. Die Zeiten von Jacobs Krankheit sind dagegen gezwungen ruhig, voller Anspannung und Unausgesprochenem. Die beiden Freunde reden viel über ihre Ängste und verschweigen dennoch ihre größten Sorgen dem anderen zuliebe.

Komplexe Emotionalität und vielschichtige Charaktere

Die ganze Geschichte strotzt nur so vor Emotionen und Leben – während es doch eigentlich besonders um das Sterben und den Tod geht: Themen, die sich in Jasmin Schreibers beiden Romanen und ihrem Sachbuch „Abschied von Hermine“ wiederfinden und jeweils in unterschiedlicher Intensität verarbeitet werden.

Die Figuren in „Der Mauersegler“ sind überschaubar in ihrer Anzahl und sehr vielschichtig. Prometheus, dessen erster Name Marvin ist, ist dabei nicht immer der große Sympathieträger. Je mehr wir Leser:innen davon erfahren, warum ihn so eine große Schuld quält, desto mehr büßt er an Sympathie ein. Und dennoch fühlen wir mit ihm, leiden mit ihm, bereuen mit ihm. Sein Handeln – oder Nicht-Handeln – bleibt nachvollziehbar, selbst wenn es uns unentschuldbar vorkommt. Ausgerechnet die so mürrisch wirkende Frau Aslaug entpuppt sich als großer Gewinn für Prometheus‘ Weg der Aufarbeitung und Akzeptanz.

Dieser besondere Ton

Schreibers Geschichte ist im Grunde simpel und doch sehr ungewöhnlich. Sie ist ernster und erwachsener als die vergleichsweise skurrile Geschichte ihres Debüts „Marianengraben“. Darin geht es um Paula, die ihren kleinen Bruder durch einen Unfall verliert und am Ende einen abenteuerlichen Roadtrip mit dem alten Helmut unternimmt – eine Aufarbeitungsreise von Schuldgefühlen, völlig anders motiviert und umgesetzt als in „Der Mauersegler“, aber nicht die einzige Parallele beider Romane. Als Leserin beider Bücher habe ich mich über den intertextuellen Verweis zu „Marianengraben“ gefreut: Paula hat nach ihrer Reise mit Helmut dem Hof einen Besuch abgestattet (natürlich ohne Helmut) – ehe Prometheus mit seinem schweren Gepäck namens „Vergangenheit“ dann dort aufschlug.

„Der Mauersegler“ ist durch die Erzählweise und die starke Sprache ein packendes Buch geworden. Die Sprache ist nahbar, fast einfach, und doch von wunderschönen Bildern geprägt, die nachhallen. Die tiefen Emotionen und komplexen Gedanken und Entscheidungen bringt die Autorin den Leser:innen nahe, ganz ohne komplizierte Satzkonstrukte zu bauen oder noch kompliziertere Wörter zu gebrauchen.

Die Mauersegler

Naturverbundenheit durchzieht den gesamten Text. Das Bild des Mauerseglers – der Lieblingsvogel des verstorbenen Freundes Jacob – taucht immer wieder auf, ist ein wiederkehrendes Motiv und Gleichnis für die Geschichte:

„Was hat dich so geschwächt, dass du allein nicht mehr hochkommst?“ (S. 223)

Das fragt Aslaug Prometheus. Im Gegensatz zum allgemeinen Glauben kommt ein Mauersegler aus eigener Kraft wieder in die Lüfte, wenn er einmal am Boden war. Außer er ist geschwächt, weil er zu alt oder zu jung oder zu krank ist. Und genauso geht es Prometheus: zu geschwächt, um wieder hochzukommen, als er innerlich verletzt auf dem Hof in Dänemark landet. Mit dem bekannten Ruf des Mauerseglers „Sriii Sriii“ hat Schreiber geradezu einen Soundtrack für die Geschichte geschaffen, so omnipräsent ist dieses Tier im Buch, ohne wirklich eine echte Rolle zu spielen.

„Der Mauersegler“ ist ein Buch über eine ganz besondere Freundschaft, über schicksalshafte Entscheidungen, eine beinahe untragbare Schuld und mit einem fliegenden roten Faden, der sich durch die zeitlich versetzten Erzählstränge zieht. Ich freue mich schon sehr auf das nächste Buch dieser Autorin.

Der Mauersegler. Jasmin Schreiber. Eichborn Verlag. 2021

Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner