Über das Meer, das Leben, die Sehnsucht … und ein veraltetes Frauenbild

von | 29.09.2021 | Belletristik, Buchpranger

Roxanne Bouchards Roman „Der dunkle Sog des Meeres“ ist ein, so könnte man sagen, poetischer Krimi, der durchaus einen Sog aufbaut. Letztendlich gibt es aber auch zu viel, über das Satzhüterin Pia beim Lesen gestolpert ist.

Eine junge Frau namens Catherine Day kommt in das kleine Fischerdorf Caplan an der kanadischen Küste. Sie ist auf der Suche nach ihrer Mutter Marie Garant, die sie nie kennengelernt hat und von der niemand wusste, dass sie überhaupt eine Tochter hatte. Diese Frau wird auch gefunden: allerdings als Leiche in einem Fischernetz. Fast zeitgleich trifft Sergeant Joaquín Morales ein, der ganz offensichtlich in einer Krise steckt – ein bisschen Midlife-Crisis, ein bisschen Unstimmigkeiten in der Ehe und dazu Unsicherheiten und Unzufriedenheiten hinsichtlich seines neuen Zuhauses. Er bekommt den Fall zugeteilt und darf sich von nun an mit den verschwiegenen und eigenbrötlerischen Einheimischen herumschlagen. Meistens steht er sich aber selbst im Weg.

Konturlos

Die undurchsichtige Catherine erschließt sich mir nicht so recht, der verwirrte Ermittler Morales kennt sich selbst nicht mehr und viele Berührungspunkte untereinander haben die beiden ebenfalls nicht. Auch die Nebenfiguren bleiben relativ oberflächlich. Nur hier und da gibt es tiefere Einblicke, aber selbst der rote Faden des Buches – die tote Marie Garant – bleibt so undurchsichtig und immer von anderen Menschen bewertet, dass man sie nicht so richtig erfassen kann. Letztendlich sind bei mir zwei Dinge hängen geblieben: Sie war schön und sie war verrückt. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht war sie nur stark und selbstbestimmt. Und das führt mich zum größten Punkt, der für mich in diesem Buch so gar nicht funktioniert hat: das Frauenbild. Beispiele hierfür gibt es viele:

„Eher robust, trotz ihrer Weiblichkeit und ihres Alters.“ S. 74
(Weiblichkeit ist nicht robust, sondern immer schön schwach, riiiichtig.)

„Alles war so wenig feinsinnig, so wenig feminin, dass es ihm fast wehtat für sie, diese Marie Garant, die ohne Mann einsam auf den Fluten des Meeres herumgesegelt war.“ S. 119
(Ohne Mann ist Frau automatisch einsam und bemitleidenswert, jupp.)

„Schwermut, die berühmte Krise rund um die dreißig, Sie kennen ja die Frauen …“ S. 135
(Erwischt – die Rezensentin, 30 Jahre alt und deswegen schwermütig.)

„Aber Sie wissen ja, wie Frauen so sind. Stecken Sie zwei junge, hübsche in dasselbe Büro, dann gibt es einen Zickenkrieg.“ S. 136
(Seufz.)

„Wenn er eine Tochter hätte, würde er wissen wollen, was sie so machte, mit wem sie sich traf. Jungs konnte man sich selbst überlassen.“ S. 154
(I mean: Aus welchem Jahrzehnt hat die Autorin diese Ansichten der Figuren geholt?)

„Sie sehen ganz schön ernst aus für eine hübsche Touristin!“ S. 237
(Immerhin hübsch, das ist wichtig. Aber bitte mehr lächeln, das kennen wir doch schon.)

„[…] Man hasst eine Frau nicht, weil sie Theater macht, alle Frauen machen irgendwann Theater.“ S. 300
(Und das darf für sich selbst stehen.)

Das ist eine kleine Auswahl an Passagen, die – wie unschwer zu erkennen sein dürfte – stark stören können. Sicherlich können vereinzelte Kommentare dieser Art zur Charakterisierung der Figur gehören. Dann sollten diese jedoch mindestens entsprechend eingeordnet werden. Stattdessen streut die Autorin in ihrem Roman aber zahllose Aussagen dieser Art ein, legt sie verschiedenen Figuren in den Mund und lässt sie als normal stehen. Ich jedenfalls möchte kein Buch mehr lesen, in dem eine Frau „schön“ ist, aber irgendwie auch „verrückt“, trotzdem waren alle Männer unsterblich in sie verliebt, denn sie war ja so schön. Hier ist dies nicht unbedingt das vordergründige Hauptmotiv, wohl aber der rote Faden, die Verbindung verschiedener Figuren, denn Marie Garant stand für all dies. Übrigens wird sie fast ausnahmslos mit vollem Namen im Buch erwähnt, was ab einem gewissen Punkt schon fast wie Satire wirkt.

Maritime Poesie

Eine große Stärke des Romans und der Grund, warum ich ihn beendet habe, ist der Schreibstil, beziehungsweise die Beschreibung der Landschaft, des Meeres und das Einfangen von Stimmungen. Er ist poetisch, voller Metaphern und Vergleiche rund um das Meer. Das funktioniert sehr gut – der Text bekommt etwas Entschleunigtes, Tiefes und vor allem leicht Wogendes. Die dialoglastigen Passagen waren dahingehend ein Bruch, die Perspektivwechsel sind zu plötzlich und zu häufig, die Dialoge zu lang und einen Hauch zu sehr „stream of consciousness“. Während die Kapitel von Catherine in der Ich-Perspektive geschrieben sind, wird der Rest aus Sicht von Morales in der dritten Person erzählt.

Unzufriedenstellend

Am Ende weiß ich nicht, was ich mit der Geschichte machen soll. Wir lernen Menschen kennen, mal mehr, mal weniger gut, wir begleiten sie ein Stück, erfahren über die Vergangenheit ein bisschen oder gar nichts und am Ende führt doch alles zu … nichts? Denn erwartet habe ich deutlich mehr Krimi als eine Auflösung, die der Ermittler auf den letzten Seiten noch fix präsentiert, nachdem er zuvor ziemlich chaotisch und inkonsequent herumermittelt hat. Sehr unzufriedenstellend ist zudem, dass die Lösung auch hätte ausbleiben können, sie hat nämlich keinerlei Konsequenz, niemand interessiert sich dafür. Wirklich angetan war ich nur (und das auch nur teilweise) von den beiden einzigen unabhängigen Figuren: Catherine und ihre tote Mutter.

Schlussendlich passt wohl auch der gesamte Text sich dem maritimen Thema konsequent an: Wir segeln mal hierhin und mal dorthin und bleiben am Ende zurück, während die Figuren am Horizont verschwinden. So ganz hallt dabei aber nichts nach, außer die Bildhaftigkeit der maritimen Szenerie. Und ein problematisches Frauenbild.

Der dunkle Sog des Meeres. Roxanne Bouchard. Übersetzung: Frank Weigand. Atrium. 2021.

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