Über die Verflechtung der Erinnerungen

von | 27.10.2014 | Belletristik, Buchpranger

Romane, die sich mit Kindheitserinnerungen auseinandersetzen, gibt es viele. Gertrud Leutenegger setzt die Reflexion der Vergangenheit in „Panischer Frühling“ jedoch in einen originellen zeitlich-räumlichen Kontext, in dem das Vergangene sich mit traumwandlerischer Leichtigkeit mit der Gegenwart verwebt.

London ist im April 2010 vom Rest der Welt abgeschnitten, als der Ausbruch des isländischen Vulkans den Flugverkehr behindert. Währenddessen streift die namenlose Ich-Erzählerin durch die Metropole und lässt sich von ihren Sinneseindrücken und ihren Erinnerungen treiben. Eines Tages lernt sie Jonathan kennen, einen jungen Verkäufer einer Obdachlosenzeitung mit einem entstellten Gesicht. Beide merken, dass sie etwas verbindet, und so beginnen sie, einander von ihrer Vergangenheit zu erzählen und sie dabei zu verarbeiten. Die Grenzen ihrer Erfahrungen verschwimmen langsam, sodass die Ich-Erzählerin immer mehr von Jonathan wissen möchte…

So simpel und schnell die Handlung des Romans erzählt ist, so raffiniert ist sie sprachlich eingebettet. Kurze Passagen, gegliedert von Hoch- und Niedrigwasser der Themse, geben einen schillernden Einblick in das heutige London und verschiedene Kindheiten in unterschiedlichen Epochen. Dabei sind die Sätze mitunter so ausgefeilt, dass sie fast wie Prosalyrik wirken. In der Verwebung von Erinnerung und Erfahrung scheinen alle Passagen selbst wie Traumszenerien, die den Leser in den Bann schlagen. Besonders spannend ist das Motiv der Trennung und des Zueinanderfindens, das den Roman bis in das kleinste Detail wie Pulsschläge durchzieht. Großbritannien ist getrennt vom Rest der Welt, eine Mutter von der Tochter, die Ich-Erzählerin von Jonathan, Gegenwart von der Vergangenheit – und doch berührt sich alles schließlich immer wieder. Wo die Handlung und die Figuren nur an der Oberfläche angetastet werden, springt die Sprache stattdessen ein, um den Leser zu vereinnahmen.

Mit „Panischer Frühling“ hat es die Schweizer Autorin geschafft, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen zu werden. Alles in allem ein kurzer, melancholischer Roman, der es in seiner Rätselhaftigkeit verdient, zweimal gelesen zu werden.

Maike

Gertrud Leutenegger, Panischer Frühling, Suhrkamp, 2014

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Hat dies auf amethyststurm rebloggt und kommentierte:
    Wie ich vor einiger Zeit versprochen habe, hier die Rezension eines Titels der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.

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