Tunnelblick

von | 14.04.2018 | Kreativlabor

Foto: Wortklauberin Erika

Majestätisch breitete er die Schwingen aus und flog über das Land seiner Väter. Der Himmel war blau und unter ihm glitzerte der Snake River, der sich von Nadelbäumen gesäumt vor den Felsenbergen schlängelte.
Der Adler passierte hohe Gipfel, seine Flügel trugen den leichten Körper über schroffe Schluchten, bis er nach Norden abdrehte. Er genoss seine Freiheit und segelte mit dem Wind.
Sein Herz schlug in freudiger Erwartung, während er dem Verlauf des Bergkamms folgte. Dann, über eine Ebene hinweg, erspähte er sie endlich, seine Chumani. Der große Vogel näherte sich vorsichtig und sah, dass sie Wildkräuter pflückte. Dabei sang sie eine alte Weise ihrer Vorfahren. Chumanis schwarzes Haar glänzte im Sonnenlicht und den dicken Zopf schmückten viele bunte Holzperlen. Mit wenigen Flügelstößen war er über ihr und zog gemächlich seine Kreise.
„Hallo Wambleeska“, rief sie und winkte ihm zu.
Die Gegend wirkte friedlich, aber der Adler spürte eine Veränderung. Aufkommender Wind trug dunkle Wolken herbei. Am Horizont sichtete er fremde Reiter in Uniform. Er erkannte die Farbe und die Verzierungen und wurde von einer unsagbaren Angst ergriffen. In Panik stürzte Wambleeska hinab. Er musste Chumani dort wegbringen! Aber egal, wie stark er mit dem Schnabel an ihrer Lederbluse zog, sie rührte sich nicht von der Stelle.
Stattdessen sah sie sich um. „Ich kann nicht vor ihnen fliehen! Meine Flügel sind verwundet. Du musst dich retten! Schnell!“ Ihr standen Tränen in den Augen, als sie seinen Schnabel sanft aus ihrer Kleidung löste.
Er wusste nicht, was er tun sollte, wie er sie schützen konnte. Die Reiter kamen in fliegender Eile näher. Ein mächtiger Knall ließ den Adler taumeln. Keine Sekunde später musste er mit ansehen, wie eine weitere Kugel seine Chumani durchbohrte und ihre gesammelten Kräuter wie in Zeitlupe zu Boden fielen.
Ihr Körper sank hinab ins Gras. Ihr Gesicht zerfloss mit dem einsetzenden Regen zu einer hässlichen Fratze.

„Nein!“, schrie Wambleeska und fegte die Bourbonflasche vom Tisch.
Isi fuhr erschrocken in ihrem Bett hoch. Hellwach lief sie drei Schritte aus ihrem Zimmer in die angrenzende Küche des winzigen Containers, der ihnen als Wohnraum zugesprochen worden war.
„Vater?!“ Sie hob die ausgelaufene Flasche auf und setzte sich ihm gegenüber.
„Chumani …“
„Ich weiß. Es war nur ein Traum, keine Realität!“ Isi hielt seine Hand. Ihre Hoffnung, dass er jemals über die Ausrottung seines Clans hinwegkommen würde, verflüchtigte sich wie der ausgeschüttete Alkohol.
„Ich brauche noch einen Schluck.“ Er versuchte, aufzustehen, kippte jedoch starr neben dem Küchentisch vornüber.
Isi konnte ihn nicht schnell genug stützen und so fiel er polternd zu Boden. Seine Augen starrten ins Leere.
Sie schob ihrem Vater ein Kissen unter den Kopf. „Ich benachrichtige Saul.“
Wenig später stand Dr. Saul Mizrachi im Wüstencontainer Nummer 43. Normalerweise kamen die Ärzte nicht zum Hausbesuch, aber Isi hatte Glück. Saul machte für sie gerne eine Ausnahme.
„Er war doch trocken, verdammt!“, fluchte der Arzt. Er prüfte Wambleeskas Blutdruck und Puls. Dann schaute er Isi ernst an. „Gibst du mir das Überwachungsband des Containers?“
„Aber … wenn das Band jemand sieht, der dem Gesetz folgt. Sie werden Vater umbringen! Bisher hatten sie keinen Grund, zu schnüffeln. Vielleicht hat er noch eine Chance, bitte!“
Saul nickte langsam. „Ich hätte gern herausgefunden, wieso er wieder trinkt. Aber du hast recht, es ist zu gefährlich. Zumal vor drei Stunden erst Container 40 fernverriegelt wurde. Keiner kam mehr raus. Angeblich ein Virus. Morgen wird er geräumt und desinfiziert.“
„Für die nächsten“, ergänzte Isi bitter.
„Keine Sorge, ich passe auf euch auf. Die kurzfristige Einladung bei meinem Professor heute Abend konnte ich allerdings nicht ausschlagen.“
„Oh.“
„Hm.“
„Ich dachte wirklich, Vater hätte dieses Chumani-Trauma überwunden.“ Isi schniefte geräuschvoll in ein Taschentuch.
„Er müsste eigentlich in den Krankenwürfel, Isi. Keiner weiß, wie stark er sich den Kopf gestoßen hat.“
An Wambleeska gewandt, fragte er: „Können Sie mich hören? Haben Sie Schmerzen?“
Ein Stöhnen war die Antwort.
„Die Krankenstation wäre sein sicherer Tod, sie werden keine Säufer dulden.“ Isis Verzweiflung wuchs. „Da ist noch nie einer lebend zurückgekehrt.“
Während Saul ihrem Vater Wasser und Elektrolyte einflößte, starrte Isi mit gesenktem Kopf auf die Rillen im Fußboden. „Ich kann nicht dauernd auf ihn aufpassen, muss doch arbeiten und uns damit am Leben halten.“
„Das verstehe ich. Dich trifft keine Schuld. Dein Vater ist selbst für sich verantwortlich.“ Er seufzte. „Ich gebe ihm ein Schmerzmittel. Hoffen wir, dass er keine inneren Verletzungen hat. Du kannst ihm unterstützend einen Ingwertee kochen, der stabilisiert den Blutzuckerspiegel.“
Zusammen hievten sie Wambleeska ins Bett.
„Ich versuche, wieder hier zu sein, wenn er in fünf bis sechs Stunden aufwacht. Der Entzug wird jedes Mal härter, er könnte Unfug anstellen.“ Saul drückte Isi an der Tür noch einmal an sich und küsste sie auf die Stirn. Dann trat er in die kühle Nachtluft. Über ihm erstrahlte ein sternenklarer Himmel. „Ich verstehe es wirklich nicht, Isi. Er ist die fünfte Generation nach seinem Urgroßvater und hat Chumani nicht gekannt. Glauben die Ureinwohner innerhalb einer Blutlinie an Wiedergeburt?“
„Es ist überliefert, dass der Geist beim Tod eines Vorfahren austritt und in die nächste Generation schwebt, auch über weite Entfernungen hinweg. Einige Nachkommen müssen die Weisheit unseres ganzen Volkes in sich tragen. Gute Erfahrungen genauso wie schlechte.“
„Verrückt.“ Saul winkte zum Abschied.
„Nein, essenziell.“ Isi schloss die Tür. Saul würde das als Außenstehender nie verstehen.
Sie streichelte betrübt ihren Bauch, der sich langsam wölbte. Eben hatte sie es Saul endlich sagen wollen, aber wieder war alles anders gekommen.
„Is … i!“ Es war mehr ein Röcheln, denn ein Rufen.
„Vater?“ Schnell betrat seine Tochter den winzigen Raum und betätigte den Lichtschalter.
Sie zerrte Wambleeska aus seinem Erbrochenen und schaute ihn besorgt an. „Schaffst du es, sitzenzubleiben?“
In dem Moment übergab er sich erneut.
So gut es ging, wischte Isi alles auf und bezog sein Bett neu, während der einst stolze Adler ins Leere stierte. Auf einmal rang er gequält nach Luft.
Isi hielt seine Schultern. „Nicht aufregen, Vater. Alles wird gut.“

Kurz war er ganz klar, blickte in Isis Gesicht. Es erschien ihm fremd. Was war mit ihr?
„Ich … mache so viel … Ärger. Bin ein Nichtsnutz.“ Wambleeska wurde schrecklich müde. „Die letzte Feder des Adlers fällt zu Boden.“
„Das darfst du nicht sagen! Wir haben hier viele Freunde, die für uns da sind, und ich habe Arbeit.“
Er lachte bitterlich. „Meine Flügel … sie sind genauso gebrochen wie die von Chumani. Es ist … nur eine Frage der Zeit, bis … “ Bei diesen Worten kippte er wieder ins Bett.
Zusammen mit Isi schaffte er es in eine halbwegs bequeme Seitenlage. Sein Blick fiel auf eine winzige rötliche Lampe an der Wand gegenüber. Kaum sichtbar im grellen Neonlicht. Wieso hatte er die nie bemerkt?
Bevor er seine Tochter fragen konnte, war er wieder weggetreten.

„Da drüben, der Snake River!“, rief der Adler.
Diesmal flog er neben Chumani über das Land seiner Väter.
Als sie dem Fluss näher kamen, klang ihre Stimme jedoch besorgt. „Er sieht heute so anders aus.“
Wambleeska ging in den Sinkflug und sah erschrocken, was sie meinte. Der Strom – sein sonst so klares Wasser war blutrot!
Chumani schrie neben ihm auf. Ihre Federn schienen seltsam verkrustet-verklebt. Sie stürzte panisch flatternd ab.
Auch diesmal konnte er ihr nicht helfen.
„Nein!“

Blutrot schien auch das Licht in Wambleeskas Zimmer, als Isi mit Saul zur Tür hereinstürzte. Kurz darauf hörten sie ein unbekanntes Geräusch.
Isis Stimme zitterte, als sie begriff. „Nein! Nein, das dürfen die nicht tun! Vater, wir müssen hier raus!“ Sie versuchte panisch, Wambleeska auf die Füße zu ziehen, während Saul sich wieder und wieder gegen das Fenster schmiss, um es einzuschlagen.
Doch es war zu spät. Er musste entsetzt mit ansehen, wie die automatischen Rolläden am Fensterstock einrasteten.
Saul kauerte sich zu den anderen aufs Bett.
Für Worte blieb keine Zeit mehr.
Der Container hatte sich selbst verriegelt.

Majestätisch breitete der Adler seine Schwingen aus und flog über das Land seiner Väter. Er musste es nun verlassen. Seine Flügel trugen ihn weit weg von jeglicher Zivilisation, bis zu einem Gebirgssee. Dort fand er Chumani am Ende eines langen Ufersteges. Neben ihr stand seine Tochter Isi, ein Baby lag in ihren Armen.
„Hallo Wambleeska“, riefen ihm die Frauen freudig zu.
Saul saß mit einer Angel am Ufer.
Wambleeska landete in der Nähe und schaute sich um.
Hier gab es keine Reiter, keine Kugeln, kein Blut.
Zum ersten Mal, seit er denken konnte, spürte der Adler Geborgenheit.

June Is, Twitter: @ypical_writer
Foto: Wortklauberin Erika
Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 29.
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