Ein Feuerzeug, kein Plan und ziemlich viele Geheimnisse

von | 06.12.2021 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Eigentlich liest Bücherstädterin Vera keine Thriller. Zum Glück hat sie „The Girls I’ve Been” von Tess Sharpe trotzdem eine Chance gegeben: Das Jugendbuch ist eine rasante Lektüre rund um eine ehemalige Trickbetrügerin, die ihrer Vergangenheit entkommen wollte.

Eigentlich möchte Nora mit ihrem Ex-Freund und ihrer neuen Freundin nur schnell etwas in der Bank erledigen. Dass sie sich mitten in einem Banküberfall wiederfinden, konnte ja keiner ahnen. Was wiederum die beiden Bankräuber nicht ahnen konnten: Nora ist kein harmloser Teenager, sondern hat ein hartes Leben als Trickbetrügerin hinter sich gelassen. Von ihrer kriminellen Mutter bis aufs Blut zum doppelten Spiel gedrillt, muss Nora nun die Stärken all ihrer vergangenen Identitäten nutzen, um der Geiselnahme zu entkommen. Aber sind all die traumatischen Überbleibsel ihrer Kindheit genug, um den Bankräubern immer einen Schritt voraus zu sein? Oder wissen sie vielleicht mehr über Nora, als sie glaubt?

„Ein totaler Mindfuck.
Der erste Schritt meines neuen Plans.
Wenn du nicht gewinnen kannst, schlag dich auf ihre Seite.
Oder, in diesem Fall, leg sie rein.“ (S. 76)

Aus der Ich-Perspektive erzählt, konstruiert Sharpe einen Thriller, der keine Zeit verschwendet. Nora ist eine vielschichtige Protagonistin, was nicht nur daran liegt, dass sie schon als fünf andere Mädchen leben musste, bis sie die Gelegenheit bekommt, sich selbst zu finden. Die Erzählung bleibt stets nah an ihren Gedanken und ihren Gefühlen und lässt keinen Widerspruch erkennen, dass die Protagonistin schon viel zu viel für ihre 17 Jahre erlebt hat, und trotzdem gerade erst unsicher erste Erfahrungen macht. Das zeigt sich auch immer wieder in der Dynamik zwischen ihr, ihrem Ex-Freund Wes (mit dem sie immer noch befreundet ist), und Iris, mit der Nora seit Kurzem in einer Beziehung ist.

Die Handlung wird immer wieder mit Einblicken in Noras Vergangenheit durchbrochen, was durch die unterschiedliche Farbe der Seiten auch optisch hervorgehoben wird. Rebecca, Samantha, Haley, Katie und Ashley sind mehr als Decknamen, sondern sorgsam von ihrer Mutter konstruierte Leben, um Männer betrügen zu können. Nach und nach fügt sich das Bild einer kaputten Familie zusammen: Eine Mutter, die ihr Kind als Werkzeug sieht. Stiefväter, die Nora auf mehr als eine Art gefährlich geworden sind. Eine abwesende, aber liebende Schwester. Als Leser*in erfährt man so häppchenweise, wie Nora entkommen ist und wie sie die Person geworden ist, die sie heute ist. Erfrischend ist, dass Sharpe ihre Protagonistin nicht durchgehend als abgebrüht präsentiert, sondern Raum für Angst, Trauma, Heilung, Unsicherheit, Freundschaft und Verliebtheit lässt.

„Ich bin schon alles Mögliche gewesen, für alle möglichen Leute. […] Aber das ist vorbei. Statt Kanonenfutter zu sein, bin ich zur Kanone geworden.“ (S. 167)

Ein ebenfalls positives Detail ist, wie Sharpe das Motiv des Love Triangle umdeutet und zu einer queeren Found Family transformiert. Statt, wie es leicht hätte passieren können, Missgunst und Eifersucht zwischen dem Ex Wes und der neuen Liebe Iris zu säen und zusätzlich Konflikte zu erzeugen, ist das Dreieck vielschichtiger. Diesen Zusammenhalt, der nicht ohne Konflikte auskommt, braucht das Buch aber auch als Gegengewicht zum harten Plot, sowohl was den Verlauf der Geiselnahme als auch Noras Vergangenheit angeht.

„Aber wenn ich liebe, dann voll und ganz, ohne Rücksicht auf Verluste.
Und dabei kommt mir besser keiner in die Quere.“ (S. 169)

Fazit: Ein Thriller für alle, die mehr komplexe weibliche Figuren in Büchern sehen wollen!

The Girls I’ve Been. Tess Sharpe. Aus dem Englischen von Beate Schäfer. Carlsen. 2021.

[tds_warning]Content Warnungen: Gewalt, psychischer und sexueller Missbrauch von Kindern[/tds_warning]

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