Tanja Raich im Interview

von | 12.05.2020 | Buchpranger, Im Interview, Stadtgespräch

„Jesolo“ zeigt die Innensicht einer Frau, aber sie zeigt, wohin wir steuern, wenn wir nicht aufbegehren. Und dass wir dorthin gelangen, dass wir nicht ständig aufbegehren müssen, das geht alle an.

Im März 2019 hat Tanja Raich ihren Debütroman „Jesolo“ veröffentlicht. Im Interview hat sie Bücherstädterin Julia erzählt, warum sie so gerne schreibt, wie die Reaktionen der Leserinnen und Leser auf ihr Erstlingswerk aussahen und was für sie ein gutes Buch ausmacht.

BK: Die erste Frage mal zur Auflockerung: Welche Bücher liegen denn gerade auf Ihrem Nachttisch?

TR: Ich lese so viel wie seit Langem nicht mehr und verschlinge ein Buch nach dem anderen. Zuletzt habe ich begeistert „Fremdes Licht“ von Michael Stavarič gelesen, gerade jetzt eine faszinierende Lektüre. Im Moment lese ich „Unorthodox“ von Dorothea Feldman und „Das geheime Band zwischen Mensch und Natur“ von Peter Wohlleben in der schönen Büchergilde-Ausgabe. Es liegen noch da: „Ich an meiner Seite“ von Birgit Birnbacher, „Die Infantin trägt den Scheitel links“ von Helena Adler, „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundhati Roy und „Der Apfel im Dunkeln“ von Clarice Lispector. Und dann liegen noch weitere dreißig Bücher auf einem eigenen Regal bereit, die ich bald lesen möchte und die ich immer wieder ersetze und neu ordne. Manchmal greife ich zurück auf Bücher, die schon seit Jahren im Regal stehen oder kaufe mir ein neues, das ich sofort beginne und zu Ende lese.

BK: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

TR: Durchs Lesen einerseits und durch die Schule und engagierte LehrerInnen, die mich ermutigt haben.

BK: Was fasziniert Sie am Schreiben?

TR: Jedes Mal setze ich mich hin, mit einer vagen Idee, manchmal glaube ich, dass ich nichts mehr schreiben kann, dass ich gar nichts mehr hinzufügen kann und ich den Text verwerfen muss, dann kommt doch noch etwas, ein Satz fügt sich an den nächsten und es entsteht eine Szene, die mir etwas Neues offenbart, meinen Text in eine ganz andere Richtung lenkt. Das sind die Momente beim Schreiben, die beglücken, und die Erfahrung, die Welt mit anderen Augen zu sehen, nachdem ein Text zu Ende geschrieben ist.

BK: Für „Jesolo“ wurden Sie für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Steigt damit der Druck für das nächste Buch?

TR: Nein. Beim Schreiben geht es ja um etwas vollkommen anderes. Den größten Druck habe ich mir immer schon selbst gemacht. Die Öffentlichkeit, die ich durch „Jesolo“ erfahren habe, war vielmehr ein Bestärken, in dem, was ich tue. Allerdings verlasse ich nun thematisch so ziemlich das Feld und bin gespannt, ob „Jesolo“-LeserInnen auf meine tropische Insel folgen werden.

BK: In einem Interview sagten Sie: „Frauen meiner Generation führen ein freies und unabhängiges Leben, bis sie schwanger werden. Dann werden sie von der Gesellschaft wieder in ein traditionelles Rollenbild gedrängt.“ Warum denken Sie ist das so?

TR: Das hat viel damit zu tun, dass politisch wenig passiert ist und Frauen, aber auch Männern wenig Möglichkeiten gegeben werden, aus alten Rollenbildern auszubrechen. Dazu kommt viel Erlerntes, das sich in dieser Phase offenbart, kombiniert mit dem Druck der Gesellschaft, wie ein Leben auszusehen hat, wie Familie gelebt werden sollte. Das geht ja noch weit über die Kinderplanung hinaus. Das heißt nicht, dass es nicht auch gleichberechtigte Paare gibt, aber sie sind in der Minderheit, und dorthin zu gelangen, ist oft mit vielen Kämpfen verbunden. Im Moment ist sicher manches im Umbruch, es bedarf aber noch eines weiten Weges, der durch konservative Regierungen (wie dies im Moment in Österreich der Fall ist) weiter erschwert wird. Die momentane Situation offenbart ja auch wieder: Frauen sind unterbezahlt, arbeiten aber mehrheitlich in den systemrelevanten Berufen und werden mit der Kinderbetreuung allein gelassen.

BK: Was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet über so ein Frauenthema zu schreiben?

TR: Die Frage zeigt eigentlich schon das Problem. Es ist kein Frauenthema, sondern geht eben beide an. Deswegen sage ich auch, dass es ein Buch über Lebensentscheidungen ist. Leider werden Bücher wie „Jesolo“ schnell als „Frauenbücher“ abgestempelt, bei denen Männer sagen: „Das hat nichts mit mir zu tun“ oder „Das hab ich schon hinter mir“, um sich der Thematik nicht zu stellen. Das Thema wird dann auch gerne kleingeredet, es ginge schließlich „nur“ um eine Schwangerschaft, dabei gibt es kaum etwas, das eine größere Veränderung mit sich bringt. „Jesolo“ zeigt die Innensicht einer Frau, aber sie zeigt, wohin wir steuern, wenn wir nicht aufbegehren. Und dass wir dorthin gelangen, dass wir nicht ständig aufbegehren müssen, das geht alle an.

BK: Wie haben Ihre Leser auf „Jesolo“ reagiert?

TR: Ich war überrascht von den vielen begeisterten Reaktionen. Das Buch hat in jedem Fall Emotionen ausgelöst. Manche wurden wahnsinnig dabei, manche haben während der Lektüre geweint, weil sie selbst in dieser Situation sind oder sich an die schwierige erste Zeit mit Kind erinnert haben. Ich habe sehr viel Zustimmung erhalten und viele haben mir dafür gedankt, das Thema der Schwangerschaft einmal ehrlich und realitätsnahe zu beschreiben. Überrascht war ich einerseits, dass es immer noch als eine Art Tabubruch gilt, und andererseits, dass es einige Frauen gibt, die wenig Verständnis für andere Lebenssituationen aufbringen und nur aus ihrer eigenen (oft sehr privilegierten) Lebenswelt heraus urteilen.

BK: Neben dem Schreiben leiten Sie das Literaturprogramm des österreichischen Verlages Kremayr & Scheriau. Sie kennen also durchaus auch die Schwierigkeiten der Literaturbranche, wissen, was sich gut verkauft und was nicht. Begleitet Sie das beim Schreiben Ihrer Bücher?

TR: Nein, beim Schreiben nicht. Ich kann auch nicht wirklich steuern, worüber ich schreiben möchte und was sich womöglich verkaufen könnte. Literarisches Schreiben ist zumindest für mich ein seltsamer Prozess, über den ich wenig Kontrolle habe.

BK: Wie entscheiden Sie im Verlag, was ins Programm genommen wird?

TR: Über die Sprache. Überzeugt mich ein Manuskript, tut es das ab dem ersten Satz. Für das Programm bei Kremayr & Scheriau habe ich mir vorgenommen, Texte von AutorInnen zu verlegen, die eine eigene Stimme haben, einen ungewöhnlichen Blick auf die Welt werfen. Mein Ziel ist es, immer wieder zu überraschen, mit neuen Perspektiven und Formen des Erzählens.

BK: Sie sind ja auch für das Lektorat bei Kremayr & Scheriau zuständig. Wie vertragen sich die beiden Positionen im Betrieb, das Beurteilen und das Schreiben?

TR: Es sind zwei unterschiedliche Prozesse. Das Schreiben erfordert viel Freiraum und vor allem auch viel Leerraum, wenig Ablenkung und Nicht-Schreiben, um dann aber im entscheidenden Moment wieder produktiv zu sein. Es geht da auch viel ums Öffnen und Frei-Machen, das sich wie viele leere Kilometer anfühlt. Eine Stunde schreiben am Tag, das funktioniert für mich nicht. Daher bin ich bei Schreibaufenthalten am effektivsten und schreibe dann so viel wie ein ganzes Jahr über nicht. Das Beurteilen ist ein wesentlicher Bestandteil des Schreibens. Ich schreibe einen Text und beurteile ihn, lektoriere ihn und korrigiere ihn, bis er in einer Fassung ist, die jemand anderes zu Gesicht bekommen kann. Meine Arbeit als Lektorin unterscheidet sich wenig davon, aber es ist immer der fremde Blick, der nötig ist, um den eigenen Text noch einmal kritisch zu hinterfragen. Deshalb kann ich meine Texte nicht selbst lektorieren, habe aber dafür als Lektorin vielleicht mehr Verständnis für die Zweifel und Schwierigkeiten der AutorInnen.

BK: Haben Sie Tipps für angehende Lektoren und Lektorinnen?

TR: Lesen (und dabei Horizonte öffnen)! Das ist das Wichtigste fürs Schreiben und fürs Lektorieren. Ich persönlich habe den Besuch von Schreibseminaren als wichtigste „Ausbildung“ für meinen Beruf empfunden. Wenn man selbst mit Textkritik konfrontiert ist, schult man sein Gespür dafür, was möglich und angebracht ist. Die Textkritik an anderen Texten wiederum schult den eigenen Blick auf fremde Texte, zeigt, wie über Texte gesprochen wird und was Veränderungen an einem Text bewirken können. Im Grunde geht es darum, sein Fingerspitzengefühl zu trainieren.

BK: Was macht für Sie ein gutes Buch aus?

TR: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich mag Bücher, die mich durch ihren Ton in den Bann ziehen, mit ungewöhnlichen Figuren, die mich Neues (mit)erleben lassen und mir dadurch eine neue Perspektive ermöglichen, Bücher, die sich an die Komplexität des Lebens halten und nicht vereinfachen, die an Aktualität nie verlieren, sondern mit der Zeit sogar gewinnen. Ein gutes Buch, das verändert vielleicht meine Sichtweise, hält sich noch jahrelang in Erinnerung und zeigt mir neue Facetten, wenn ich es Jahre später wiederlese.

BK: Zum Abschluss noch zwei Fragen, die wir allen Gästen in der Bücherstadt stellen: Welche Frage haben Sie sich in einem Interview schon immer gewünscht und was wäre Ihre Antwort darauf?

TR: Ein guter erster Satz?

„In dem sehr zweifelhaften Schatten eines sogenannten Zwetschkenbaumes saß ein Mann, der hieß auch Zwetschkenbaum, aber er war es nicht.“ (Albert Drach, Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum)

BK: Wenn Sie ein Buch wären, welches wären Sie?

TR: Eines mit vielen unterstrichenen Stellen und Eselsohren.

BK: Vielen Dank für das Interview!

Foto: Kurt Fleisch

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