„Stell dir nur vor, jemand käme und entdeckte uns!“

von | 15.02.2018 | #philosophiestadt, Belletristik, Buchpranger, Specials

Der Norweger Jostein Gaarder ist für seine philosophischen Romane für junge und ältere Leser bekannt. Mit seinem neuen Roman „Ein treuer Freund“ widmet er sich nun Themen wie Freundschaft, Einsamkeit und Sprache. Worteweberin Annika hat ihn gelesen.

„Ein treuer Freund“ besteht aus einem einzelnen, sehr langen Brief, den der Sprachwissenschaftler Jakop Jacobsen an Agnes, die er auf einer Beerdigung kennenlernte. Langsam enthüllt er ihr und den Lesern, wie es zu dieser Begegnung kam, was es mit Jakops Vorliebe für Beerdigungen und seinem besten Freund Pelle auf sich hat. So entsteht das Bild eines sehr einsamen, aber nicht unglücklichen Mannes. Vielleicht jedoch kann Agnes ein Ausweg aus der Einsamkeit sein, sobald sie den Brief erst einmal erhalten hat?

Durch das Format des Briefs sind die Leser Jakops unzuverlässigem Erzählen ausgeliefert: Während die Adressatin der Briefe ein persönliches Vorwissen über die Treffen mit Jakop besitzt, müssen sich die Leser ganz auf seine lange in die Vergangenheit reichende Erzählung einlassen. Durch Auslassungen kommt es nach und nach zu einigen Überraschungen, die dazu mahnen, nicht immer der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Neben Jakops und Agnes‘ gemeinsamer Geschichte spielt aber auch der Blick des Protagonisten auf die Welt eine Rolle im Briefroman. Dieser ist gespickt mit einigen interessanten philosophischen Überlegungen und Denkanstößen, wie man sie auch aus anderen Romanen von Gaarder kennt:

„Allen anderen außer uns muss auffallen, dass wir unergründlich rätselhaft sind. Nur wir selbst sehen es nicht. Wir staunen nicht darüber, dass wir sind. Vielleicht sind wir das größte Wunder des Universums, auch wenn uns das nicht täglich zu Bewusstsein kommt. Stell dir nur vor, jemand käme und entdeckte uns!“

Jakops große Leidenschaft gilt neben dem Philosophieren den indogermanischen Sprachen, deren Verflechtungen er analysiert, sodass er Herleitungen und Abstimmungen einiger Wörter in Unterhaltungen und seine Erzählung einfließen lässt:

„Ich habe keine lebenden Kinder oder Enkelkinder und keine lebenden Geschwister oder Eltern, aber ich habe lebende Wörter in meinem Mund, und ich kann deutlich sehen, dass es von Verwandten dieser Wörter von Island bis Sri Lanka überall im indogermanischen Sprachraum nur so wimmelt – und das über eine Zeitspanne von nicht weniger als sechstausend Jahren.“

Daraus lernen auch die Leser so einiges über Sprache, wobei die Passagen teilweise etwas langatmig und dozierend wirken können. Wer sich darauf einlässt, kann dadurch aber nur bereichert werden. Denn wann sonst denkt man einmal darüber nach, wie eng das indische Sanskrit mit dem Norwegischen und dem Deutschen verwandt ist und welche Bedeutungen über die Herkunft der Wörter noch transportiert werden. Auch dadurch ist „Ein treuer Freund“ sehr lehrreich. Gaarder ist mit „Ein treuer Freund“ ein berührender, tiefsinniger, überraschender Roman gelungen.

Ein treuer Freund. Jostein Gaarder. Übersetzung: Gabriele Haefs. Hanser. 2017.

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