Spieglein, Spieglein …

von | 03.08.2020 | Belletristik, Buchpranger

Jeder im Viertel kennt Younes Mutter Shahira: Sie trägt Miniröcke, flirtet mit dem Gemüsehändler, hat Affären. Wie andere diese Frau wahrnehmen, erzählt Karosh Tahas Wenderoman „Im Bauch der Königin“. Worteweberin Annika hat in die zwei Welten des Romans geblickt.

Ein Wenderoman? Eine Geschichte, zwei Perspektiven, dachte ich, bevor ich mit „Im Bauch der Königin“ begann. Beide Seiten des Romans ziert das gleiche Umschlagbild – zwei Augen, deren Farben sich spiegeln –, auf beiden Seiten beginnt eine Geschichte. Damit stellt sich direkt die erste Frage: Mit welcher Seite des Romans beginnen? Letztendlich zeigt sich, dass das kaum einen Unterschied macht. „Im Bauch der Königin“ stellt nämlich keine zwei Perspektiven gegenüber, es sind zwei Realitäten, die sich ergänzen und spiegeln wie die Augen auf dem Umschlag.

Spuren sammeln

Einerseits erzählt hier Amal, ein kurdischstämmiges Mädchen im Abiturjahrgang. Als Younes beste Freundin bewundert sie dessen Mutter Shahira, die Frau mit den kurzen Röcken und dem großen Selbstbewusstsein. Denn auch Amal reibt sich an der für sie vorgesehenen Rolle als Frau. Schon als Kind verprügelt sie die älteren Jungen der Schule, sie trägt ihre Haare kurz und lieber weite Sporttrikots als enge Kleider. Der rote Nagellack scheint für sie der Ausweg, um trotzdem als Frau wahrgenommen zu werden – vergeblich.

Neben diesen Themen beschäftigt Amal vor allem, dass ihr Vater die Familie vor Jahren verlassen hat, um in Kurdistan zu arbeiten. Dort kann er Architekt sein statt Gabelstaplerfahrer, doch dort hat er inzwischen auch eine neue Familie. Aus Amals Leben ist er fast vollständig verschwunden, der jüngere Bruder hat seinen Vater nie kennengelernt. Nach dem Abitur beschließt Amal, ihn zu besuchen.

„Ich habe angefangen, Vaters Spuren zu sammeln. Vater hinterließ Abwesenheit, Vater hinterließ Fehlen, Vater hinterließ Scham, Vater hinterließ Ungewissheit, Vater hinterließ Zersplitterung, Vater hinterließ Auflösung. Und Vater hinterließ Unvollständigkeit.“ (S. 26)

Reflektiert wird im Roman auch der Status der kurdischen Figuren in Deutschland. Amal träumt von einer gemeinsamen Sprache, die sie mit ihren Eltern, aber auch der neuen Heimat verbindet, dem „Kurdeutsch“. Skeptisch beobachtet sie, wie ihre Mutter sich ein Kopftuch umbindet, um nicht von fremden Männern angesprochen zu werden und damit zum Klischee der muslimischen Frau in Deutschland wird: „sie ist ein Streitfall, sie ist eine Schlagzeile.“ (S. 42)

Dem Viertel entwachsen

Von der anderen Seite der Medaille erzählt Raffiq, Younes bester Freund, der verstohlene Blicke auf Shahiras lange Beine wirft und in Gedanken immer wieder zu ihr zurückkehrt. Dabei ist Raffiq mit Amal zusammen, einem selbstbewussten, langhaarigen Mädchen mit roten Fingernägeln. Und er weiß, dass Younes sich unendlich dafür schämt, dass seine Mutter im Viertel als „Hure“ gilt. Nur wenn Raffiq sie in Gedanken als „Younes Mutter“ bezeichnet, kann er ihrem betörenden Äußeren standhalten.

„Shahira ist ein Geist, der Younes umspielt und ständig mit uns ist, ohne dabei zu sein, als wären wir gefangen in ihrem Bauch. Irgendwann wird Younes ihrem Bauch entwachsen, und keiner weiß, was dann passiert, und das macht uns alle nervös.“ (S. 22)

Am liebsten würde Younes zu seinem Vater nach Frankfurt flüchten und Raffiq gleich mitnehmen: Nach dem Abitur könnten sie dort eine WG gründen, ein Studium beginnen. Aber Raffiq ist sich unsicher. Er möchte nicht, dass sein Vater zurück nach Kurdistan geht, um dort statt als Gabelstaplerfahrer als Architekt zu arbeiten und er möchte auch nicht, dass Amal als Au Pair nach Chicago geht. Aber was er selbst eigentlich in seinem Leben erreichen möchte, das kann er nicht benennen.

Die Schönste im ganzen Viertel

Die beiden Romanhälften zeigen Figuren mit den gleichen Namen in ähnlichen Situationen, doch in vielen Punkten unterscheiden sich die Amals, Raffiqs und Väter in diesen Geschichten. Andere Elemente tauchen in beiden Geschichten auf, aber verzerrt oder gespiegelt: ein an die Wand gemaltes Fußballtor oder der rote Nagellack zum Beispiel. Nur das Zentrum der Erzählungen bleibt gleich, Shahira. Durch die voneinander abweichenden Realitäten, in die sie eingebettet wird, werden zwei ganz unterschiedliche Blickwinkel auf das Leben im Multikultiviertel möglich. Und auch erzählerisch unterscheiden sich die beiden Seiten des Romans: Amals Hälfte ist eine mäandernde Erzählung ohne Anführungszeichen, die von Wiederholungen und starken Bildern lebt. Raffiqs Erzählung hingegen ist näher an der alltäglichen Sprache und enthält viele Dialoge.

Karosh Taha ist mit „Im Bauch der Königin“ ein vielschichtiger, unkonventioneller Roman gelungen. Wer sich auf die besondere Art des Erzählens einlassen kann, wird davon sicherlich nicht enttäuscht werden.

Im Bauch der Königin. Karosh Taha. Dumont. 2020.

 

Bücherstadt Magazin

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