Spaziergang durch die Zeit

von | 15.12.2017 | Belletristik, Buchpranger

Ein Vater dokumentiert die Zeit mit seinem zweijährigen Sohn Karl. Gemeinsam gehen sie auf Entdeckungsreise in der Welt. In „Zuckersand“ thematisiert Jochen Schmidt mit beiläufiger Tiefe Themen wie Erinnerung und Zeit. Worteweberin Annika ist eine Runde mit spazieren gegangen.

Karl ist zwei Jahre alt und hat eine große Vorliebe für den Seifenspender, das Auflegen des Einkaufs auf das Warenband im Supermarkt und Spielplätze. Während die Mutter Klara stets abwesend ist, aber übervorsichtige Nachrichten schickt, begleitet Richard seinen Sohn auf dessen Streifzügen durch die Wohnung und die Nachbarschaft. Um Karls Aufwachsen zu dokumentieren schreibt er einen Bericht über Karls Alltag. Von den gemeinsamen Erlebnissen werden bei ihm immer wieder auch Erinnerungen an die eigene Kindheit angestoßen.

Ein Archiv

Der Vater des Erzählers arbeitet passenderweise im „Archiv für Archivwesen“, und auch Richard selbst beschäftigt sich mit dem Konservieren von Momenten und Dingen. So hebt er die To-Do-Listen und Einkaufszettel seiner Frau mit Datum versehen auf, besitzt ein selbstgebasteltes Gebiss aus den Milchzähnen seiner Klassenkammeraden und trägt auch ansonsten reichlich Ballast aus seiner Vergangenheit in Form von Gegenständen mit sich herum. Im Roman wird dies durch skurrile Auflistungen behandelt, die eine Lupe auf Richards Leben richten. In dem ein oder anderen absonderlichen Ding finden sich bestimmt auch die Leser wieder.

Verbunden mit diesen Gegenständen ist die Erinnerung, teils wie bei Proust fast unwillkürlich heraufbeschworen, vor allem aber die forcierte. An Karl sieht Richard die Zeit verstreichen, daran zum Beispiel, dass er ihn auf den „alten“ Bildern schon längst nicht mehr so schön findet wie heute. Und auch in seiner Umgebung beobachtet Richard Veränderungen, nicht nur in der Umgestaltung der Stadt, sondern auch in unserer modernen Lebenswelt: selbstklebende Briefmarken, das Verschwinden des Modelleisenbahnladens, Computeranimationen im Kinderfernsehn.

Glück und Schwermut

Auf dem Spielplatz den „Zuckersand“ zu löffeln, ohne darin nur Sand zu sehen: Von Karl lernt der Erzähler das Sehen, gewinnt den Blick für „Bodenschätze“ in Form von Haargummis und anderen Kleinstgegenständen zurück, ohne die erwachsene Schwermut ganz ablegen zu können. Die Vergangenheit kann nicht nur positiv, sondern auch grausam sein, das weiß der Erzähler und versucht es von seinem Sohn so gut es geht fernzuhalten.

„Eines Tages würde ich Karl erklären müssen, was die sieben goldenen Pflastersteine bedeuteten, die vor einem Hauseingang in unserer Nachbarschaft in den Boden eingelassen waren und bei denen er immer fragte: ‚Was kann man damit machen?‘ […] Wer tröstete die Väter? Wo mußte man anschlagen, um ‚erlöst‘ zu sein?“

Manchmal ist es hart für den Erzähler, ein Vater zu sein, vor allem aber ist es begleitet von reichlich Glücksmomenten. Der Bericht strotzt vor der abgöttischen Liebe des Vaters für seinen Karl, für die kesse Beule in seiner Windel und die gemeinsamen Abenteuer. Der sonst immer furchtlose Richard beginnt sich zu sorgen und über Katastrophen nachzudenken, empfindet manchmal Angst. Im Roman sind diese bewegenden Momente flankiert von Komik, so dass Tiefe entsteht, ohne zu bedrücken. So gelingt es Schmidt meisterlich, seine anspruchsvollen Themen leicht zu verpacken

Liebe zum Detail

Passend zu Richards und Karls Welt ist die Umschlagabbildung von Line Hoven, in der ein Vater und ein (wenn auch etwas älterer) Sohn durch einen wilden Dschungel über Krokodilen balancieren. Der Großstadtdschungel und das Abenteuer im Kleinen erkennt man hier wieder. Richards Detailverliebtheit fangen außerdem die vierzehn Vignetten von Line Hoven ein, von denen jedes Kapitel eingeleitet wird.

„Zuckersand“ ist mehr als nur ein Väterroman, wie er in einigen Feuilletons – wenn auch wertschätzend – tituliert wurde, aber er ist eben auch das. Trotzdem werden sich hier nicht nur frisch gebackene Väter wiederfinden, sondern wohl jeder, der selbst einmal Kind war und nun die Zeit verstreichen sieht. Schmidts Roman ist bewegend, emotional und anspruchsvoll, ohne seine Leser zu vergraulen.

Zuckersand. Jochen Schmidt. C.H. Beck. 2017.

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