So etwas wie Heimat?

von | 16.02.2017 | Belletristik, Buchpranger

In „Superposition“ thematisiert Kat Kaufmann Heimat, Identität und Interkulturalität – fernab von Klischees. Ähnliches hat auch „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ von Olga Grjasnowa im Blick. Worteweberin Annika findet, dass die beiden Romane zwar nicht in einen Topf geworfen gehören, aber sich wunderbar ergänzen.

Superposition

Am besten aber eins nach dem anderen. Aus der Ich-Perspektive erzählt Kat Kaufmann in „Superposition“ einen Ausschnitt aus dem Leben der jungen Protagonistin Izy im Berlin der Gegenwart. Izy sträubt sich gegen jede Art von Zuordnung in eine Schublade: Sie ist Jüdin, Russin, Deutsche, Künstlerin, bisexuell und alles, was sich sonst gerade so anbietet. Im mäandernden Strom der Identitäten streunt Izy durch die Großstadt, trifft Freunde, trinkt, um zu vergessen und denkt an ihre große Liebe Timur – alles nur Zentimeter vom Abgrund entfernt.

Timur, der selbst als Kind von Russland nach Deutschland übersiedelte, versteht Izys Gefühle, lebt aber in einer Beziehung, die nur selten Platz lässt, um Izy eine Nacht in sein Bett aufzunehmen. Trotzdem ist er der ständige Adressat ihrer Gedanken, die der Lesende live mitverfolgen darf. Schließlich landet Izy mit einer Verletzung im Krankenhaus, und die Gedanken beginnen, Achterbahn zu fahren. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Wahnsinn verwischen zunehmend, bis am Ende die Frage bleibt: Was ist hier eigentlich passiert?

Wie Izys Charakter, so ist auch ihre Sprache hybrid. In den rauen Ton mischen sich neben vielen umgangssprachlichen Wendungen nicht nur ein melancholischer Unterton, sondern auch mindestens drei Sprachen neben dem Deutschen. Kat Kaufmann wurde für „Superposition“ mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet.

Der Russe ist einer, der Birken liebt

Wie Kaufmanns Izy ist auch die Protagonistin in Olga Grjasnowas Roman als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen, sie stammt aus Aserbaidschan. Wie Izy wehrt sich Mascha gegen Klischees, gegen eine Zuordnung zu Nationalitäten, und auch sie ist bisexuell. Mascha lebt mit ihrem Freund Elias in Frankfurt, studiert, um eines Tages als Übersetzerin bei der UN zu arbeiten. Ihre Erinnerungen an die Kindheit in Aserbaidschan haben Mascha traumatisiert, doch sie schafft es, sich über Wasser zu halten. Bis Elias aus Maschas Leben verschwindet und nicht nur eine große Leere, sondern auch ein weiteres Trauma zurücklässt.

Mascha fliegt schließlich nach Israel, um dort zu arbeiten, doch statt eines Neuanfangs holt sie die Vergangenheit ein. Auch wenn sie selbst die jüdische Religion nicht praktiziert, wird sie hier Teil des großen „Judenmonopolys“, zu dessen Regeln es gehört, dass Laptops erschossen und Kekse als Trost verteilt werden. In Israel schildert Mascha außerdem ihre Eindrücke vom Palästinenserkonflikt, ein Thema, das sonst in der deutschsprachigen Literatur eher selten Platz findet. Mascha verliebt sich schnell, jedoch ohne viel zu fühlen, sucht Halt auf Partys und im Alkohol, steht kurz vor dem Zusammenbruch. Was danach kommt, bleibt offen. Dass das anzitierte Happy-End mit Sonnenuntergang nicht eingelöst wird, kann man zumindest vermuten.

Auch der Ton von Grjasnowas Protagonist ist teilweise rau, allerdings auch poetisch und gewitzt. Für „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ erhielt die Autorin unter anderem den Anna Seghers Preis.

Heimat und Identität

Sowohl Mascha als auch Izy sind auf der Suche nach so etwas wie Heimat. An keinem Ort können sie die finden, weder auf den Berliner Partymeilen, noch im Zentrum von Tel Aviv. Viel eher, so scheint es, liegt für beide Frauen die Heimat bei den Menschen. Doch wie sich zeigt, sind die nicht immer leicht zu erreichen. Möglich, dass dieser Blick auf Heimat gerade auch im Zusammenhang mit der Migrationsgeschichte beider Protagonistinnen – sowie beider Autorinnen – gesehen werden sollte.

Beide Romane machen außerdem darauf aufmerksam, wie selten Klischees und Stereotype zu gebrauchen sind. Besonders deutlich wird das in Grjasnowas Roman, der mit Nationalität und Herkunft spielt und dabei viele Grenzen aufweicht. Möglich, dass das nicht ganz ohne Überzeichnungen von statten geht, jedoch wird auch dadurch die Position sehr deutlich, die schon der Titel andeutet. Kat Kaufmanns Protagonistin sieht sich selbst als Teil einer „Vielvölker-Hokuspokus-Holocaus-Familie“ (S.77), für sie mündet der Identitätskonflikt jedoch in vollkommener Freiheit.

Polysingularität nennt sich das, nicht nur im Roman, denn die Theorie hat sogar einen eigenen Internetauftritt. Ob man nun daran glauben mag, steht sicherlich auf einem anderen Blatt, in Kaufmanns Roman wird die Idee jedenfalls konsequent entwickelt. Zusammengenommen werfen beide Romane einen interessanten Blick auf die Felder Heimat und Identität, beleuchten dabei jeweils aber ganz eigene Aspekte.

Lesenswert?

Während „Superposition“ vollkommen in der jungen Berliner Künstlerszene verhaftet ist und uns so eine sehr hippe, aber auch sehr spezielle Welt vor Augen führt, trifft „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ eher den Ton einer ganzen Generation, einer bestimmten Zeit. Die Handlung scheint hier weniger oberflächlich, sondern größer. Ob man das „Superposition“ zum Vorwurf machen möchte? Das ist sicherlich Geschmackssache.

Beide Romane sich sicherlich sowohl sprachlich als auch in ihrer Weise des Erzählens bemerkenswert und nicht nur darauf bedacht, Erwartungen zu erfüllen. Dass sie zudem auch noch interessante Denkanstöße darstellen können, ist ein großes Plus. Den sprunghaften und unzuverlässigen Erzählerinnen immer zu folgen, macht das Lesen besonders von „Superposition“ aber auch zu einer Art Strudel, die wahrscheinlich nicht jedem Leser liegt und gefällt.

Superposition. Kat Kaufmann. Hoffmann und Campe. 2015.
Der Russe ist einer, der Birken liebt. Olga Grjasnowa. Hanser. 2012.

Bücherstadt Magazin

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