Sex, Drugs und Übersinnliches in der Zeit des Stummfilms

von | 29.10.2020 | #Todesstadt, Belletristik, Buchpranger, Specials

Chiara Mondschein reist aus der Provinz in das Berlin der 20er Jahre, um mehr über den Tod ihrer Schwester Jula zu erfahren. Jula Mondschein war eine bekannte Schauspielerin zur Zeit der Stummfilme. Um ihren Selbstmord, aber auch die ihr fremd gewordene Schwester zu verstehen, übernimmt Chiara Julas letzte Rolle. Geschichtenbewahrerin Michaela taucht in die Zeit des Stummfilms ab und beobachtet Abgründe und Okkultismus und erfährt einiges über die Geschichte des Films.

Die Leserinnen und Leser erleben Berlin und die Menschen der Stadt wie Chiara Mondschein sie erlebt. Groß, laut, bunt, gefährlich, verwirrend und undurchsichtig. Als Chiara aus Meißen nach Berlin kommt, um die Angelegenheiten ihrer Schwester zu regeln, bekommt sie das Angebot des Filmemachers Felix Masken, den letzten Film ihrer Schwester zu Ende zu drehen. Sie nimmt an, um mehr über Jula und den Grund ihres Selbstmordes herauszubekommen. Chiara hat Erfolg, dreht weitere Filme, denn das Publikum liebt sie. Doch sie versinkt in einen Sumpf aus Oberflächlichkeit, Drogen, Sex, Tod, Menschenhandel und Okkultismus. Und sie wird süchtig nach Erfolg und Popularität. Um diese Sucht zu befriedigen, gibt es nur einen Weg: grenzenloser Egoismus.

Eines Abends macht Chiara eine Entdeckung, die sie an all dem zweifeln lässt und sie kämpft sich aus ihrer Sucht, um nicht nur das Geheimnis um Jula aufzudecken, sondern auch ihr eigenes.

Der Stummfilm der 20er Jahre

Kai Meyer zeigt die Filmbranche der Stummfilmzeit als einen Ort der Oberflächlichkeit, der Gier nach Geld, Macht und Popularität, der Manipulation und des Menschenhandels. Sex und Drogen gehören dazu, sei es, weil man das Leben nicht anders ertragen kann oder weil man sich Vorteile erhofft. Man könnte meinen, oder hoffen, die Szenen von Orgien, gekauften Kindern und das Gefügigmachen von Menschen mit Hilfe von Drogen, sei der Spannung des Romans geschuldet. Doch Fälle wie Harvey Weinstein zeigen, dass dies weder allein des Ideenreichtums Kai Meyers entsprang noch der Vergangenheit angehört.

Er versteht es den Leserinnen und Lesern den Stummfilm näher zu bringen, bevor er anschließend auf die negativen Seiten eingeht. Das schafft er, indem er berühmte Persönlichkeiten erwähnt, wie die Schauspielerinnen Pola Negri und Asta Nielson oder den Kulissenbauer Alfred Kubin. Den Regisseur Fritz Lang und den Schauspieler Bernhard Goetzke bindet Kai Meyer sogar direkt in die Handlung mit ein.

Berlin der 20er Jahre

Der Autor beschreibt das glänzende Berlin, die Spaßgesellschaft und das wohlhabende Berlin. Das Hotel Adlon, das Romanische Café am Kurfürstendamm gab es, oder gibt es wieder, ebenso die Ateliers und das Kino Zoopalast. Er zeigt auch die dunklen Seiten der Stadt. Die Armut, Arbeitslosigkeit, Prostitution und den Kinderhandel. Er beschreibt das Scheunenviertel, in dem vor allem die arme jüdische Bevölkerung lebte und Verbrecherbanden herrschten. Frauen wie Männer waren Opfer und Täter. Er deutet die Unterschiede dieser beiden Welten an, indem er von Automobilen zu Pferdekutschen oder von hell beleuchteten Straßen zu schlecht beleuchteten wechselt.

Okkultismus und Philosophie

Es wäre kein Kai Meyer-Roman, wenn nicht das Übersinnliche darin vorkommen würde. Hierbei bedient er sich dem Okkultismus, der bereits seit den 1860er Jahren in Deutschland beliebt war und „praktiziert“ wurde. In „Das zweite Gesicht“ geht es um die Möglichkeit, mit Hilfe eines Mediums mit den Geistern Verstorbener in Kontakt zu treten. Das ist nichts Neues. Dagegen ist mir noch nie ein Ritual untergekommen, bei dem Doppelgängerinnen und Doppelgänger erschaffen und für die eigenen Ziele eingesetzt wurden. Kai Meyer versteht es, den Okkultismus der Geheimlehre der Theosophie von Helena Petrova Blavatsky mit dem Philosophen Friedrich Nitzsche und seinem „Übermenschen“ sowie dem Esoteriker und Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner zusammenzuführen, um daraus einen außergewöhnlichen und spannenden Roman zu entwickeln.

Das Vorwort schrieb der Regisseur und Drehbuchautor Dominik Graf. Im Anhang beschreibt die Lektorin Hanka Jobke die Entstehungsgeschichte des Romans, wofür Kai Meyer ihr seine Unterlagen zur Verfügung stellte. Dies ist ein sehr interessanter Einblick in die Arbeit des Autors.

Eintauchen in die Zeit

Kai Meyer erwähnt viele bekannte Orte und bekannte Personen. Es macht Spaß und ermöglicht das absolute Eintauchen in den Roman, wenn man sich mit dem Berlin der 20er Jahre und dem Stummfilm beschäftigt hat, oder während des Lesens nachschlägt, wen oder was der Autor gerade beschreibt. Man kann sich Straßenaufnahmen der Zeit ansehen, die Mode betrachten, sich einen Stummfilm anschauen, auch wenn es nur Ausschnitte sind, die es auf YouTube jedoch zahlreich gibt.

Das zweite Gesicht. Kai Meyer. Blitz Verlag. 2002 (vergriffen). / Rocket Books. Überarbeitete Neuauflage mit Bonusmaterial. 2018.

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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