Seelenseher in der Sackgasse

von | 10.12.2017 | Belletristik, Buchpranger

Oft scheint es wichtiger zu sein, was in einer Geschichte geschieht, als der Grund, warum, meint Sätzchenbäckerin Daniela. Eine Geschichte muss nicht perfekt sein, um Leserinnen und Leser mitfiebern zu lassen, solange sie vielschichtig und unterhaltsam ist.

Actionreich und unterhaltsam waren viele popkulturelle Erfolge der letzten Jahre, von denen auch einige aus dem Anime-Bereich kamen: „Attack on Titan“, „Sword Art Online“, um nur zwei der bekanntesten Titel zu nennen. „Seelenseher (Tougard 1)“ von Cornelia und Domenic Franke hat viel von dieser Popkultur und dem Anime-Genre, verpasst aber, sich in den entscheidenden Punkten an möglichen erfolgreichen Vorbildern zu orientieren, und wird dadurch nur mit sehr viel Augenzudrücken interessant.

Keine runde Sache

Jugendliche mit besonderen Fähigkeiten kommen nach Tougard, in eine Schule abseits von der realen Welt. Auch Charlie landet dort unfreiwillig und soll nun lernen, wie man ein Heiler wird. Im Zuge dessen versucht er mit der neuen Situation umzugehen und neue Freunde zu finden. Bis seine Schule angegriffen und mehrere Mädchen entführt werden. Charlie und seine neugefundenen Freunde begeben sich auf die gefährliche Reise, sie zurückzuholen.

Alles weist in der ersten Hälfte des Buches darauf hin, dass sich die komplette Handlung in der Schule abspielen wird und sowohl Räumlichkeiten als auch Personen noch wichtig für die spätere Handlung sein werden. Dabei werden einige Dinge eingeführt und erwähnt, die scheinbar Stück für Stück das Kommende andeuten. Doch nur ein Bruchteil des Ganzen hat überhaupt etwas mit der späteren Handlung zu tun.

Der Bruch in der Handlung

Vorhersehbar ist „Seelenseher“ also auf keinen Fall – zumindest in dem Sinne, dass man nicht wirklich weiß, wohin das Buch überhaupt hinführen möchte. Es scheint, als hätten es die Autoren selbst nicht so genau gewusst. Gegen Mitte der Handlung wird die bisherige Schulgeschichte durch einen plötzlichen Angriff unterbrochen, bei dem mehrere Mädchen entführt werden und einige Personen sterben. Es ist überraschend, dass die Geschichte hier eine Färbung bekommt, die wenig mit dem sonnigen Schulalltag davor zu tun hat, und von nun an stark in Richtung Abenteuer geht.

Um die Spannung hochzuhalten, werden sogar scheinbar wichtige Charaktere geopfert. Dadurch kommt die Handlung erst wirklich in Fahrt, gleichzeitig enttäuscht sie jedoch, hatte die erste Hälfte des Buches doch noch etwas anderes versprochen. Wer eine Abenteuergeschichte lesen möchte, kämpft sich vermutlich nicht durch viele Seiten Schulbeschreibungen, bis mal etwas passiert. Und jenen, die die Schulbeschreibungen mochten, wird es wahrscheinlich nicht gefallen, dass sich die Charaktere plötzlich auf ein Abenteuer begeben, bei dem es um Leben und Tod geht. Auch die fehlende Verbindung zum Anfang führt dazu, dass die Geschichte nicht rund wird und daran in zwei Hälften zerbricht, die wenig gemeinsam haben, bis auf ihre übergreifenden Fehler.

Unglaubwürdigkeit und unbefriedigende Auflösungen

Fantasy lebt von der sogenannten Willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit: Vieles, das phantastisch ist, ist nicht vollständig mit den Gesetzen unserer Welt erklärbar und muss deshalb nur in den Gesetzen der jeweiligen phantastischen Welt kohärent sein. Das funktioniert hier solange, bis aufgestellte Regeln der Welt sofort wieder gebrochen werden, was zu einer Unglaubwürdigkeit führt, die die Welt schnell unrealistisch erscheinen lässt. Zum Beispiel gibt es in Tougard viele Personen aus unterschiedlichen Ländern. Diese können durch Magie miteinander kommunizieren, alles wird automatisch übersetzt. Es sei denn, das Wort ist nicht übersetzbar. Dann benutzen die Charaktere aber trotzdem immer wieder spezielle Ausdrücke ihrer Sprache, die ohne Weiteres übertragbar wären. Es sind diese Details, die Widersprüche erzeugen und immer wieder störend auffallen – was die Unterhaltung deutlich schmälert.

Am Ende sind es die Erklärungen, die unbefriedigend sind. Die Auflösungen, das Warum und Wie, werden nie erklärt beziehungsweise so banal angerissen, dass es nicht wie eine endgültige Erklärung wirkt. Auch scheinbar interessante Plottwists stellen sich als enttäuschend simpel heraus.

Protagonist und Nebencharaktere

Bei den Nebencharakteren entsteht das Gefühl, sie alle schon einmal in einer anderen Geschichte erlebt zu haben. Das fördert eine schnelle Bindung, man findet Muster, die man an einem anderen Charakter mochte und überträgt diese recht rasch auf einen neuen. Das macht die Charaktere sympathisch und ihren potentiellen Verlust kurzweilig dramatisch. Darüber hinaus entwickeln sie sich jedoch kaum bis gar nicht, was sie in ihren Schubladen verharren lässt. Sie sind einfach gestrickt, bleiben aber so wie man sie kennen und möglicherweise lieben gelernt hat.

Eine Handlung steht und fällt jedoch mit ihrem Protagonisten. Andere Geschichten hätten hier einen eingesetzt, der vielleicht wenig Charakterentwicklung mitbringt, aber gleichzeitig viel Projektionsfläche bietet. Doch leider trifft hier nur ersteres zu, was zum Anfang vom Ende führt. Denn der Protagonist kann sich mit den Protagonistinnen der sogenannten ChickLit mit Leichtigkeit messen, wenn es um das Thema Jammern geht.

Charlie kann nicht gut mit anderen Menschen umgehen und bleibt deshalb lieber allein. Er spielt sich nicht in den Vordergrund und hat Probleme damit, seine Fähigkeit zu erlernen. Eigentlich eine gute Grundlage. Jedoch haben seine Schwächen nie eine Auswirkung auf den Plot. Er bekommt alles und erreicht alles ohne größere Probleme, einfach weil er der Protagonist ist. Anstatt seine Fähigkeiten aktiv zu nutzen, fällt ihm alles zu. Sogar Dinge, die er nicht kann, funktionieren irgendwie sofort, obwohl betont wird, dass er sie nicht kann. Das macht ihn in der ersten Hälfte zu einem langweiligen Charakter.

Erst viel zu spät stößt Charlie auf Widerstand. Dennoch scheint er nie zufrieden zu sein. Was gelingt, weiß er nicht zu schätzen, und viel zu oft bemitleidet er sich selbst. Enttäuschenderweise schafft er es auch nicht, seine Probleme zu überwinden. Dadurch entsteht eine emotionale Kälte dem Protagonisten gegenüber.

An seiner Unfähigkeit, Beziehung zu anderen aufzubauen, ändert leider auch die gefährliche Reise nichts. Er lässt seine Mitreisenden regelmäßig im Stich, um seine egoistischen Ziele zu verfolgen. Dies hat aber keine Konsequenzen und es wird auch nie thematisiert. Er schafft es als Protagonist nicht über seine Schwächen hinaus und ist am Ende genauso überempfindlich, genauso eigennützig und genauso fad wie vorher. Das macht ihn nicht nur unsympathisch, sondern auch noch langweiliger, als er es schon zu Beginn war.

Vielleicht etwas für Fans der leichten Unterhaltung

Die Geschichte weiß nicht wirklich, wo sie hin möchte. Die erste Hälfte hat keinerlei Auswirkungen auf die zweite, in der es zwar unterhaltsam wird, aber nie so, dass man viel darüber nachdenken müsste. Mit dem Protagonisten lässt sich nur schwer bis gar keine Beziehung aufbauen, weshalb die Nebencharaktere, trotz ihrer Einfachheit sehr sympathisch wirken. Fans von leichter, unterhalsamer Fantasylektüre ohne Anspruch könnten hieran dennoch ihren Spaß finden.

Seelenseher (Tougard). Cornelia und Dominic Franke. Papierverzierer. 2015.

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner