Schwarzweiß

von | 26.09.2018 | Kreativlabor

Foto: Wortklauberin Erika

„… und ich sage, das neue Rathaus wird gebaut!“
Das war der Satz, der das unvermeidbare Ende meiner Bürgermeisterära markierte. Jetzt, da ich diese Zeilen für meine Memoiren niederschreibe, ist es mir immer noch unbegreiflich, was für ein Trottel ich gewesen bin.
Ich bin überzeugt davon, dass ich ein recht fähiger Bürgermeister war. Wie ich jetzt weiß, zogen bereits in der ersten Amtszeit dunkle Wolken auf. Doch auf mich wirkten sie nicht bedrohlich, da sie von einem Vertrauten weiß angemalt worden waren. Es waren wohl viele kleine Dinge im Hintergrund, die mir, zusammen mit meinem letzten großen Fehler, das Genick brachen.
Ich erinnere mich noch gut an die allererste Sitzung, die den Neubau des Rathauses zum Thema hatte. Ein von meinem Stadtrat-Mitarbeiter Paul empfohlener Architekt stand vor uns und erklärte bedeutende Details.
„Sehr geehrter Herr Bürgermeister Hommel, sehr geehrter Stadtrat, ich möchte Ihnen heute die Konzeption des innovativen Neubaus vorstellen. Geplant ist ein repräsentatives Gebäude mit vier Etagen. Es gibt genügend Raum für zeitgleich stattfindende Mitarbeiterschulungen oder den Empfang von Delegiertengruppen. Insgesamt werden circa 2000 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Wie ich hörte, möchte der Ministerpräsident Ihre schöne Stadt bald einmal besuchen? Die Fertigstellung bei zügigem Baustart ist in zwei Jahren anberaumt. Alle Zimmer werden wie heutzutage üblich über Multimediaausstattung und Klimaanlage verfügen … “
Ich fand die Idee gut und lobte die ausdrucksstarke Architektur. Für mich bedeutete das Projekt eine essentielle Entwicklung für Torsis. Ein Juwel im Herzen meiner Stadt.
Dann kam der Zeitpunkt, als einer aus dem Stadtrat sich zu Wort meldete und erklärte, dass für den Neubau viele Bürger umquartiert werden müssten. Mir war sofort klar, dass neben den Anwohnern die Bezirkspolitiker richtig Schlechtwetter gegen das Vorhaben machen würden.
„Es ist ein hervorragender erster Entwurf! Du wirst der Erneuerer!“, meinte Paul später in meinem Büro.
Ich sprach meine Bedenken aus. „Es ist aber auch etwas, von dem man nicht erwarten kann, dass jeder auf Anhieb jubelnd in die Höhe springt.“
Paul indes hielt es für den Masterplan. „Die Plattenbausiedlung muss ohnehin weg, sie entspricht nicht mehr den aktuellen Standards.“
„Und doch leben viele Menschen in diesen Gebäuden. Sozial schwache Menschen. Wo sollen die unterkommen, etwa im alten Rathaus?“
„Das wird abgerissen. Aber keine Sorge, wir werden schon Wohnungen für sie finden.“
In dieser Art ging das noch eine Weile hin und her.
Im Nachhinein stelle ich fest, dass die Ignoranz meiner eigenen Gefühle alles noch schlimmer machte.
Es kamen viele Tage, an denen ich – nicht etwa der Stadtrat – den streikenden Bürgern und der Opposition erklären musste, wozu die Stadt ein neues Rathaus benötigte.
Ich tat, was ich von meinem Kommunikationstrainer gelernt hatte und warb mit positiver Rhetorik um die Gunst der Menschen.
„Es ist ein herausragendes Projekt, eine Verschönerung unserer Stadt. Torsis wird damit viele Touristen locken. Die betroffenen Anwohner bekommen neue und auch bessere Wohnungen zugewiesen.“
Paul hatte mir letzteres nach endlosen Diskussionen abschließend zugesichert und mich davon überzeugt, dass kein Bürger zu Schaden käme.
Ich fuhr am Stichtag vor Ort, um das Kommando zum Abriss zu erteilen. Meinen Wagen parkte ich am Straßenrand und wurde sogleich von einer Schar Kinder empfangen, die meisten nicht älter als acht Jahre. Alle Mädchen steckten in Sonntagskleidchen und hatten kleine Blumen im Haar. Auch die Jungen trugen schicke Hemden, manche sogar mit Krawatten. Eins nahm mich an der Hand und alle zusammen führten mich zum abgesperrten Areal.
Schon als ich darauf zulief, bemerkte ich, wie schön die Plattenbauten geschmückt waren. In einigen Fenstern sah ich farbenfrohe Windowcolor-Motive. Sie bildeten einen starken Kontrast zu den mit Graffiti beschmierten Wänden. Bunte Wimpelreihen verliefen von Fenster zu Fenster und Fähnchen flatterten in der Sommerluft. Vor die Türen der Wohnblöcke hatte man Kübelpflanzen gestellt. Der schwere Chrysanthemenduft kitzelte in meiner Nase.
Die Stimme, gepaart mit dem Blick aus den riesigen grünen Augen des kleinen Mädchens an meiner Hand, ging mir durch Mark und Bein.
„Jede Blume steht für einen Anwohner, der nicht mehr hier wohnen kann. Schauen Sie mal, die Rose da drüben, das ist die Oma Piekorz. Wir werden sie nicht wiedersehen, weil ihre Verwandten sie weggeholt haben, dabei hat sie immer leckeren polnischen Kuchen für uns alle gebacken. Und da hinten, im letzten Eimer, da ist eine Lilie. Die steht für den Jan. Der hat eine Ausbildung gemacht, zum Mecha … niker. Jetzt sitzt er auf der Straße und wird wieder kirmi … kriminell. Wieso müssen Sie unsere schönen Wohnungen sterben lassen?“
Ich schaute mich um. Außer den Kindern, die mich unschuldig anblickten, sah ich nur Reporter und mehrere Abrissbagger auf dem Areal stehen. Mit einem Schlag wurde ich mir bewusst, dass ich kein glorreicher Erneuerer, sondern ein Totengräber war.
Ein Baggerfahrer kam auf mich zu:„Können wir anfangen, Herr Hommel?“ Die Augen der Kinder starrten mich an und ich musste einen heftigen Kloß im Hals hinunterschlucken. Ich Narr dachte damals wirklich, dass meine Tage gezählt wären, wenn ich zurückruderte. Also nickte ich und verließ das Gelände, gejagt von den Reportern.
Der Boden unter mir hatte wochenlang gebröckelt und brach nun gänzlich ein. Paul würde mir helfen, redete ich mir ein.
Doch weit gefehlt.
Vor dem alten Rathaus traf ich auf ihn. Er hielt eine Rede vor versammelter Presse, in der er erklärte, von Anfang an gegen den Bau gewesen zu sein.
Nun beabsichtige er, sich bei der nächsten Wahl als Bürgermeisterkandidat aufstellen zu lassen.

June Is, Twitter: @ypical_writer
Foto: Wortklauberin Erika
Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 31.
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