„Schreie & Flüstern“: So spielt das Leben

von | 24.11.2021 | Belletristik, Buchpranger

„Schreie & Flüstern“ von Lisa Kreißler ist ein Roman über Mutterschaft, die Liebe zum Leben, große Krisen und den Wunsch, selbst zu bestimmen, wer man sein will. Worteweberin Annika war begeistert.

Der Roman beginnt mit einem Umzug von der Stadt aufs Land und kreist später um dessen Folgen: Weil sie eine große Summe Geld geschenkt bekommen, kaufen die Protagonistin Vera und ihr Mann, der Maler Claus, einen alten Hof in Niedersachsen. Das Gebäude ist renovierungsbedürftig, liegt in der Nähe von Veras Heimatdorf und ihren Eltern und führt sie so aus dem lebendigen Leipzig zurück in die Heimat. Hier wollen Vera und Claus ab jetzt mit ihrem Sohn Siggi leben, doch Vera vermisst die Lebensfreude, ihre Freunde, die Kultur, hadert mit ihrer Ehe, den ungeschliffenen Landmenschen, der Baustelle.

Cover Schreie & FlüsternEs kriselt

Und nicht nur das, kurz nach dem Umzug stirbt Veras ungeborenes Kind und der Verlust wirft sie vollends aus der Bahn. Warum nur hat sie sich auf den Hof und gar ihren Mann eingelassen, der schon früher sprunghaft war? Haben die beiden überhaupt einmal zusammengepasst?

Claus hingegen träumt vom Gemüseanbau, schließt sich dem örtlichen Herrengesangsverein an und scheint seine Bestimmung auf dem Land gefunden zu haben. Nach einem Traum in der Silvesternacht beschließt er sogar, er sei nun ein neuer Mensch – Fränk. Und der „ist so weit gekommen in seiner Kunst, dass er nicht mehr malen muss. Stattdessen wird er Gemüse anbauen.“ (S. 157) Die Landmenschen reagieren angemessen irritiert. Doch bleibt es bei Fränk?

Ein Neuanfang

So weit sich die beiden auch voneinander entfernt haben, irgendwann schlägt die Stimmung zwischen Vera und Claus aka Fränk um. Zeit verstreicht, neue Hoffnung kommt auf: Als dann wieder neues Leben in Vera heranwächst, kommt sie mit jedem Tag mehr in ihrem Alltag auf dem Land an. Mit ihr erkennen wir nun die Schönheit (neuen) Lebens, den Zauber der Natur und des Seins. Dabei beweist die Autorin ein gutes Gespür für Stimmungen.

„Die Felder sind nur schwach erhellt vom Sternenglühen. Der Himmel ist samtblau, wie ein tiefes unergründliches Gewässer. Hinter uns liegt das Dorf, der Garten, das Haus, in dem wir jetzt leben. ‚Ich weiß gar nicht mehr, wer ich vorher war‘, sagt Claus. ‚Dabei ist all das noch gar nicht lange her.‘“ (S. 207)

Der Kontrast zwischen der Stadt und dem Land ist ein Dauerbrenner in der Literatur und ein Thema, das gerade heute viele Menschen beschäftigt: Was soll man noch in der Stadt, wenn man durch die Digitalisierung auch auf dem Land alles haben kann? Mit Vera und Claus werden zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema vorgestellt. Dass das Landleben dann letztlich das Glück für die beiden verspricht, mag mit Lisa Kreißlers eigenen Erfahrungen zusammenhängen, denn auch die Autorin lebt inzwischen auf einem Hof in Niedersachsen. Mit den Landmenschen, die ihren Roman bevölkern, wagt sie aber einen durchaus ironischen Blick auf die Provinz.

Aber Neuanfänge und der Unterschied zwischen Stadt und Land sind nicht die einzigen Themen, die diesen Roman stark machen. Besonders gefallen haben mir die Abschnitte über das Alter(n), über den Blick von Veras Oma auf ihr Leben und die viel zu schnell vergangene Zeit.

Schattenseiten und Glücksmomente

Lisa Kreißler gelingt es, die Schattenseiten und die Glücksmomente, das Schreien und das Flüstern des Lebens, einzufangen und die Leser*innen – oder jedenfalls mich – mit jeder Seite mehr zu bannen. Nur durch den ersten Teil des Romans, der hoffnungslos wirkt, kommt der zweite Teil so zum Strahlen, dass ich mir so viele Sätze wie schon lange nicht mehr markiert habe. Lisa Kreißler lässt uns tief in ihre Protagonistin hineinsehen, mit ihr den Frust oder auch eine rauschartige Geburtserfahrung durchleben und hält uns durch Zeitsprünge doch auch auf dem nötigen Abstand, um am Ende ein Gesamtbild zu überblicken. So subjektiv und alltäglich Veras Erfahrungen und Gefühle auch sind, durch ihre poetische Sprache macht die Autorin diese kleinen Momente ganz groß.

„Ich bin so leicht wie die Luft, die die Schlafenden atmen.“ (S. 212)

Anknüpfungspunkte an die Protagonistin finden sich schnell bei dieser Lektüre, die genau das richtige ist, wenn man wie ich auf der Suche nach starken weiblichen Stimmen in der Gegenwartsliteratur ist. „Schreie & Flüstern“ ist ein kraftvoller Roman, ein weiblicher Roman und ein Text über die Themen unserer Zeit – von mir gibt es eine klare Leseempfehlung (und zwar natürlich nicht nur für Frauen!).

Schreie & Flüstern. Lisa Kreißler. Mairisch. 2021.

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