Ronnie blickte ein weiteres Mal in den Spiegel. Noch genug Zeit bis zum Auftritt. Etwas Lampenfieber trotz vieler Jahre Travestie. Die Wimpern überprüfen, noch ein bisschen Lippenstift. Wieder einmal war aus Ronald Ronnie geworden, eine attraktive Frau. Ronnie gefiel, was er, nein, was sie sah. Nicht schlecht für über 50, dachte sie. So gut konnte man aussehen in diesem Alter, ging es ihr durch den Kopf – wenn man nicht rauchte (allein schon der Stimme wegen), wenig Alkohol trank und auf viel Schlaf achtete (trotz des Nachtlebens). Was das Make-Up dazu beitrug, ließ sie außer Acht …

Von der Bühne ertönte die Stimme der Ansagerin, welche die Nummer einer anderen Künstlerin ankündigte. Ronnie nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das auf der Ablage vor ihr stand. Dann schaute sie wieder zum Spiegel.

Ihr Blick fiel auf die Fotos, die sie hinter den Rahmen des Spiegels geschoben hatte. Es waren vier Bilder: Donna Summer, Gloria Gaynor und Ronnie Spector, jene berühmten afroamerikanischen Sängerinnen. Das vierte Bild aber zeigte zwei gänzlich durchschnittliche weiße Männer, die einen absoluten Gegensatz zu den drei amerikanischen Diven bildeten: Dieter, den Bruder von Ronnies Mutter und seinen besten Freund, den Malermeister Kaschunke, bei dem Ronnie eine Ausildung zum Maler absolviert hatte. Ronnie musste lächeln. Alle Fotos waren schwarz-weiß, die beiden Töne, die für Ronnie selbst standen.

Ein afroamerikanischer Vater, eine weiße deutsche Mutter. Das war damals in den 60ern und 70ern ein Problem, obwohl Ronnie bei weitem nicht das einzige Kind aus einer solchen Verbindung war. Ein „Besatzerkind“ und dazu noch farbig … Das Gefühl von Andersartigkeit, das ihm aufgezwungen worden war, der Eindruck, ausgegrenzt worden zu sein, obwohl er doch eigentlich zugehörig war. Ronnie schaute auf das Foto mit Onkel Dieter, der seine Schwester als einziger vorbehaltlos unterstützt hatte, nachdem sie von einem schwarzen GI schwanger geworden war und schließlich ein niedliches Schoko-Baby bekommen hatte. Der schwarze Daddy war als Militärangehöriger ziemlich schnell abkommandiert worden in die Staaten, Ronnie hatte ihn nie bewusst erlebt.

An Vaters Stelle war somit jener Onkel Dieter getreten, wuchtig, mit starken Fäusten (vielleicht war Ronnie deshalb in der Nachbarschaft weitestgehend in Ruhe gelassen worden). Ein Fels, ein Rettungsanker. Ronnies Augen wurden feucht, denn Onkel Dieter war vor zwei Jahren gestorben, an Krebs.

Onkel Dieter hatte ihm auch die Ausbildung zum Maler verschafft. Bei seinem Freund Kaschunke, dem anderen Mann, dessen Foto Ronnies Spiegel zierte. Ein großer Schädel, ein gutmütiges Gesicht, auch er ähnlich wie Onkel Dieter so etwas wie ein Vaterersatz.

Kaschunke kam aus Ostpreußen, hatte damals am Anfang der Lehre zu Ronnie gesagt: „Bloß nicht verrückt machen lassen, Jungchen. Ich bin hier anfangs auch ziemlich ausgegrenzt gewesen. Für die Hiesigen war ich der Polacke, als ich nach dem Krieg hierherkam. Gibt halt viele Schranken in den Köpfen, aber irgendwann hat das dann keine Rolle mehr gespielt. So wird es auch bei dir sein.“ Ronnie hatte da so seine Zweifel gehabt. Zu groß von vornherein die Unterschiede auch der Wahrnehmung. Kaschunke hatte wenigstens keine andere Hautfarbe als die Einheimischen.

Zum Glück gab es die Musik. Nicht die weiße Suzie Quattro, sondern die schwarzen Donna Summer und Gloria Gaynor mit „I will survive“. Dieses mutmachende Lied mit der Haarbürste vor den Lippen zu singen war schon komisch, musste Ronnie jetzt, viele Jahre später, in Gedanken eingestehen. Da hatte sich schon angedeutet, dass Ronnie irgendetwas zum normalen Mannsein fehlte. Er war anders als die gleichaltrigen männlichen Mitschüler, auch wenn die in den 70ern ganz schön androgyn ausgesehen hatten mit den langen Haaren wie viele andere Jungs und Männer. In den Zeiten von Glam-Rock, Disco und dem Falsettgesang der BeeGees waren die Geschlechtergrenzen unmerklich ein bisschen aufgeweicht worden, von Freddy Mercury ganz zu schweigen.

Ronnie aber hatte nun einmal die schwarzen Sängerinnen bevorzugt. Ein Vorteil hatte darin gelegen, dass ein Bravo-Poster von Donna Summer mit ihrer erotischen Ausstrahlung durchaus als Beweis für eine „normale“ Orientierung hatte durchgehen können. Doch gewisse Unterschiede waren eben nicht so leicht zu verbergen. Das hatte sich dann während der Ausbildung gezeigt. Ronnie mochte kein Bier, hatte sich dann einiges anhören müssen, wenn er statt dessen eine Cola bestellte. Auch die versauten Sprüche der anderen hatte er nicht mitgemacht …

So war es im Nachhinein ein Wunder, dass Ronnie die Lehre im Handwerkermilieu durchgestanden hatte. Der Geselle, mit dem er meistens zu tun gehabt hatte, ein ziemlich gutmütiger Kerl, hatte Ronnie glücklicherweise keine Probleme bereitet. Aber die anderen Kollegen…

Das Versteckspiel hatte schon vorher angefangen, während er noch als Schüler heimlich damit begonnen hatte, Frauenfummel anzuziehen. Wie ihn das magisch angezogen hatte, die Stoffe, das Schwingen des Rocks, der Duft eines Parfüms von Frauen, z.B. beim Friseur, aber eben nicht aus Interesse an den Damen, sondern als Ausdruck einer Hinwendung zum Weiblichen, zu seiner weiblichen Seite. Der Wunsch, so sein zu wollen wie jene Diven des Soul aber auch wie die Frauen, die chic zurechtgemacht am Freitagabend auf die Piste wollten, war immer stärker geworden … Lange Zeit hatte das niemand bemerkt. Erst gegen Ende der Lehre war es seiner Mutter aufgefallen. Deren Entsetzen, als sie hatte feststellen müssen, dass der eigene Sohn die Grenze zwischen den Geschlechtern ganz einfach dann und wann überschritt!

Glücklicherweise war es Ronnie dann gelungen, nach Berlin zu ziehen, auch um dem Wehrdienst zu entgehen. Dort hatte man eintauchen können ins Nachtleben! Das war zwar aufregend, aber auch oberflächlich, ohne Bindungen, die Beziehungen flüchtig, nicht von Dauer.

Bezeichnend, dachte sie jetzt, während sie die Geräusche des Auftritts auf der Bühne wahrnahm, dass sie außer den Bildern von den beiden Ersatzvätern keine Fotos von Freunden oder Freundinnen besaß, nur ein kleines Bild ihrer Mutter im Portemonnaie. Mit der hatte Ronnie sich inzwischen arrangiert, von Zeit zu Zeit sahen sich die Mutter und ihr Sohn, der auf der Bühne zur Tochter mutierte. Sonstige soziale Kontakte waren selten, auch innerhalb der Szene. Wirkliche Nähe war nie entstanden, zu niemandem.

Auch der einwöchige Besuch in den USA hatte bestätigt, dass Ronnie irgendwie zwischen den Welten schwebte, in einer Art Niemandsland. Ronnies Vater war gestorben, ohne dass er ihn noch einmal gesehen hatte; so war er zur Beerdigung geflogen,nach Birmingham, Alabama, wo er sich aber fehl am Platze vorgekommen war. Seine Verwandtschaft hatte ihn freundlich, aber eben doch distanziert behandelt, obwohl sie nicht hatte ahnen können, dass Ronnie in Germany als Crossdresserin auftrat. Ronnie hatte sich während des ganzen Aufenthalts vor allem auch deshalb unwohl gefühlt, weil er/sie seine/ihre weibliche Seite so lange nicht ausleben konnte. Er oder sie? Das war die Frage, die sich eigentlich nicht mehr ergab. Aber Ronnie hatte den letzten Schritt dann doch nie gewagt, nämlich die Operation, die aus ihr tatsächlich eine Frau machen würde.

Zwei Tage nach der Beerdigung war Ronnie von diesem USA-Trip mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit nach Deutschland zurückgekehrt. Dort hatte sein anderes Ich die Lieder von schwarzen Musikerinnen im Repertoire. So wurde aus Ronald Kamenski, kleinbürgerlichem Milieu entstammend, abendlich eine schillernde Berliner Figur namens Ronnie Brown. Ronnie wie Ronnie Spector (Ronnie and the Ronettes). Tagsüber ein unscheinbares Leben in „normalen“ Klamotten, die Jeans im Männerschnitt, erst zu vorgerückter Stunde die Verwandlung in eine Diva mit Perücke, Schminke und Kleid fernab der kleinen 1,5 Zimmer-Wohnung in durchaus bürgerlicher Umgebung. Zwischendurch Auftritte in anderen Städten, die Reise dorthin als Ronald, die abendlichen Auftritte als Ronnie. Ein veritables Doppelleben, aber ziemlich einsam.

Ronnie seufzte, als ihr jemand auf die Schulter klopfte. „Dein Auftritt, Ronnie.“
„Ja, danke.“ Ronnie stöckelte hinter den Kulissen in ihrem hochgeschlossenen roten Kleid mit dem raffinierten Schlitz in Richtung Bühne, wo die vorherige Nummer, ein Jonglage-Akt mit Jacqueline, die eigentlich Vasillis hieß, gerade zu Ende ging. Dann noch ein paar launige Worte von Madeleine, die durch den Abend führte, hin und wieder ein paar schlüpfrige Dinge sagte, in der Erwartung, das Publikum verlange dies. Ronnie hingegen empfand solche Zoten insgeheim als ziemlich billig.

Endlich wurde sie angekündigt und trat aus dem Schatten hinaus auf die Bühne, die Welt hinter sich zurücklassend, schritt entlang zu ihrer wahren Bestimmung. Die Bewegungen stimmten, der Gesang sowieso, ein weiterer perfekter Auftritt von Ronnie Brown. Das Publikum reagierte wohlwollend. Ronnie hatte sich angewöhnt, nie jemanden direkt anzuschauen, immer knapp über den Köpfen die Blicke schweifen zu lassen. So nahm sie die Gäste des Abends nicht richtig wahr, jene Mischung aus allen möglichen Typen, auch zutiefst bürgerliche darunter, auch solche mit Vorurteilen, die heute Abend einen Ausflug in die Halbwelt wagten. Vielleicht des extravaganten Flairs wegen, von dem sie meilenweit entfernt waren, die Distanz zu etwas verlierend, was sie halb anziehend, möglicherweise halb abstoßend fanden, der farbigen Crossdresserin lauschend, jenem merkwürdigen Wesen, das dort oben sang.

Doch die unsichtbare Barriere zwischen ihnen blieb, musste bestehen bleiben zwischen diesen Grenzgängern für einen Abend und derjenigen, deren Tanz im Niemandsland zwischen den Geschlechtern hin zu ihrer weiblichen Seite sie weit hinaushob über die Alltagswelt …

Stadtbesucher Jürgen Rösch-Brassovan
Illustration: Satzhüterin Pia

 

Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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