Querwaldein

von | 01.04.2019 | Belletristik, Buchpranger

Kann man es eigentlich verantworten, Vater zu werden, wenn man keine Ahnung davon hat, wie man ein Lagerfeuer anzündet, wie man ohne Gummibärchen über die Runden kommt, wenn man die Wildnis nicht kennt? Finn-Ole Heinrich gibt darauf Antworten in „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“. – Von Worteweberin Annika

Während das Ich naiv mit zwölf Tüten Haribo zum Vater-Crashkurs in den Wald aufbricht, ist seine Frau hochschwanger und weiß erstmal noch nichts von ihrem „Glück“. Sie bleibt daheim, das heißt im ausgebauten Gartenschuppen hinter dem Haus ihrer Eltern, in den die wachsende Familie gerade eingezogen ist. Aber wie soll das Ich dem starrenden Blick des unzufriedenen Schwiegervaters standhalten? Wie soll es ein Vater werden, wenn es selbst nie einen hatte?

Vater sein, Vater werden

Die Lösung dafür bietet der Reuber. Finn-Ole Heinrichs neues Buch bezeichnet sich seinetwegen als „Reuberroman“ – ein Tippfehler? Mitnichten, denn hier geht es nicht um einen einfachen Räuber, hier geht es um den Reuber, den „einzig echten Fachmann für das echte, raue Leben“. Der, von dem im Maximalwald die Erdanziehung ausgeht. Der grüllt und rölzt, luffuddert und grunft. Und der schreibt sich eben mit E statt Ä. Für seinen Reuber hat sich Finn-Ole Heinrich eine eigene Sprache erfunden, eine Mischung aus Nuscheln und Slang, die „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ einen ganz eigenen Sound verleiht.

„Ich bins Reuber. Hatterschon als Kind jeen Tag ein Mensch gefress. Unheute isser größer noch, stärker noch, unhat mehr Hungernoch. Bewegsu dich, schlachter dich. Kommsu auffes Feuer rauf, aufgespießt. Reuber dreh dich, würz dich, friss dich auf. Jetzt gibsu, wassu hast und machs keinton, sons stribsu hierunjetz. Machsu, was Reuber sag, kommsu mit dein Leben von. Vielleich. Wenn Reuber will.“

(S. 8)

Mit diesem Reuber verbringt das Ich einige Wochen im Wald. Es klettert, schwimmt, jagt Kaninchen (und das als Vegetarier). Während es anfangs ein Fremdkörper im Wald ist – beinahe isst es giftige Pilze, trampelt außer Atem durch die Wildnis und sorgt sich mehr um die Dekoration als ums Überleben – lernt das Ich vom Reuber bald, wie man „Luft futtert“ (also ganz tief durchatmet), sich durch den Wald schleicht und sogar seine Sprache.

„Im Wald musst du alles können: rennen, springen, hangeln, Hindernisse überwinden, klettern, am besten fliegen, aber das kann selbst der Reuber nur rudimentär, im Randbereich des Springens.“

(S. 129)

„Nurnix komplixititatiertes“

Vom Reuber lernt das Ich außerdem, den Ballast unserer Gesellschaft abzuwerfen. Im Wald gelten nur ein paar Regeln, die über Leben und Tod entscheiden. Zum Beispiel: „Reuberregel Nummer zehn: Ein Reuber gefühlt nicht in der Welt herum.“ Klar, dass die Regeln augenzwinkernd zu betrachten sind, aber sie weisen doch darauf hin, welche Probleme uns heute oft die Sicht auf die wichtigen Dinge im Leben rauben. Zu viel „Komplixititatiertes“, zu viele Sorgen. Der Wald, das ist hier ein Ort, ganz anders als „unsere“ Welt, eine Heterotopie, würde der französische Soziologe und Philosoph Michel Foucault dazu sagen.

Wieso nun muss man aber in den Wald, in die Wildnis, um Vater zu sein? Ist es archaisch zu behaupten, moderne Männer müssten eigentlich jagen lernen und durch die Botanik grüllen, um zu funktionieren? Hätte es nicht ein Babykurs im benachbarten Familienzentrum auch getan? Wenn man so möchte, lässt sich „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ als ein Zeugnis für ein veraltetes Männerbild lesen. Andererseits, wenn man auf Foucaults Heterotopie zurückgreift, geht es vielleicht um etwas anderes dabei: Darum, sein Ich an einem besonderen Ort außerhalb der Regeln unserer digitalisierten, komplizierten Gesellschaft zu finden. Und das geht nicht beim Babykurs um die Ecke. Es geht aber im Wald.

„Ich war ein Klappspaten gewesen und kam als Spitzhacke aus dem Wald zurück.“

Dass das Verhalten des Ichs dabei reichlich problematisch ist, wird ebenfalls deutlich. Ist es ein besseres Ich, nachdem es gelernt hat, Wanderer in Reubermanier zu überfallen? Was hat es denn eigentlich gelernt? Und: Darf ein Vater seine schwangere Frau ohne jede Nachricht sitzen lassen, um im Wald sich selbst zu finden? Wohl eher nicht. Da der Roman sich als ein Brief des Ichs an sein neugeborenes „Krümelchen“ gestaltet, wird sein Zwiespalt deutlich: die Begeisterung für die Abenteuer im Wald, aber auch die Reue ob des eigenen Verhaltens.

Wie schon bei einigen anderen Projekten hat Finn-Ole Heinrich bei „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ mit der isländischen Künstlerin Rán Flygenring zusammengearbeitet. Ihre grün-schwarzen Bilder sind ein Augenschmaus; darunter Anleitungen zum Floßbauen, zum Spurenlesen und andere lustige Grafiken. Zusammen mit der ansprechenden Aufmachung des Buches wird „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ so zu einem schönen Geschenk für werdende Väter – in der Hoffnung, dass sie aus der Lektüre genug lernen, um zu Hause zu bleiben.

„Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“ ist ein Buch, das man nicht auf die Goldwaage legen braucht – das sich aber in Gold aufwiegt, denn Finn-Ole Heinrichs spielerischer Umgang mit Sprache ist ebenso genial wie die Illustrationen von Rán Flygenring.

Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes. Finn-Ole Heinrich. Illustrationen: Rán Flygenring. Mairisch. 2018.

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Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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