Platz da, hier kommt eine Liebesgeschichte!

von | 15.11.2018 | Belletristik, Buchpranger

Alles geht los mit seltsamen Himbeeren. Was dann kommt, lässt den Protagonisten in „Hysteria“ von Eckhart Nickel an Natur und Mensch zweifeln. Worteweberin Annika zweifelt ebenfalls, aber am Roman.

Einiges ist anders an der Welt, in der Bergheim, der Protagonist, lebt: Eine Umweltpartei regiert, Alkohol wurde verboten, viele Regionen der Erde sind versteppt und eignen sich nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln. Eine erschreckende, leider vorstellbare Zukunftsvision – eine Dystopie. In dieser Welt nun gibt es eine Bewegung, die alle Spuren des Menschen vom Planeten tilgen möchte, zu viel Schlechtes habe er angerichtet. Und außerdem gibt es das kulinarische Institut, in dem Lebensmittel und Lebewesen durch erschreckende Eingriffe in die Natur erzeugt werden.

Verschenktes Potenzial

Der Entwurf dieser Welt hat Potenzial, steuert unsere Gesellschaft doch auf einen enormen Klimawandel und davon ausgelöste Krisen fast unaufhaltsam zu. Aber „Hysteria“ schöpft das kritische Potenzial nicht aus. Zu schwach bleiben die dystopischen Elemente, zu undeutlich wird die Bedrohung, der Bergheim auf der Spur ist. Aus einem einfachen Grund: Eine Liebesgeschichte drängt sich in den Vordergrund.

Begründet liegt die in Bergheims Studienzeit, als die Bewegung des „Spurenlosen Lebens“ gerade aufkeimte. Mit Charlotte und Ansgar bildete Bergheim ein unzertrennliches Trio. Seine Liebesbeziehung zu Charlotte musste auch deswegen für alle ein Geheimnis bleiben. Die nicht ganz heimlich in Bergheim verliebte Buchhändlerin Kirsten allerdings ahnte etwas. Am Tag, an dem Bergheim seine Diplomarbeit abgab, ging dann alles in die Brüche und läuft erst viele Jahre später im Kulinarischen Institut wieder zusammen.

Kätzchen statt Tiger

Durch ein Erinnerungen heraufbeschwörendes Gerät unternimmt Bergheim hier an Zeitreisen erinnernde Abstecher in seine Vergangenheit, die einen Großteil der Handlung bilden. Diese Zeit ist unserer heutigen Gegenwart nicht ganz unähnlich, allerdings schreibt man hier noch ein Diplom und weiterhin auf Papier statt digital, so dass sie sich einer tatsächlichen Verortung entzieht. Auch, weil Nickel viel in die Ausgestaltung dieser Zeit investiert, bleibt Bergheims eigentlich bedrohliche Gegenwart ein zahmes Kätzchen, seltsam unergründlich. Viel Brisanz geht dadurch verloren, dass es sogar zweifelhaft erscheint, dass Bergheims Gegenwart eine Folge unserer eigenen sein könnte.

Mit „Hysteria“ hat Eckhart Nickel es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. In den Rezensionen der großen Zeitungen wird ein Horrortrip gelobt, den zumindest ich in diesem Roman gar nicht finden konnte. Was teils als Science-Fiction klassiert wird, erinnert doch viel mehr an melancholische Campus-Novels mit haufenweisen intellektuellen Zitaten und Anspielungen. Aber braucht es das, um vom „geheimen Einzug der Künstlichkeit in unser Leben“ (Klappentext) zu erzählen? Statt zweigleisig zu fahren und von allem etwas sein zu wollen, hätte es „Hysteria“ gut getan, sich für eines zu entscheiden. Ob es allerdings ein richtiger Science-Fiction-Roman in die Auswahl für den Buchpreis geschafft hätte, kann man sich auch fragen.

Wer einen kritischen Roman über Umweltprobleme und andere Fragen unserer Zukunft lesen möchte, sollte lieber nicht zu „Hysteria“ greifen. Wer ein bisschen von allem sucht und sich dabei intellektuell fühlen möchte, schon eher.

Hysteria. Eckhart Nickel. Piper. 2018.

 

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