Vier Rezensentinnen, vier (kurze) Romane: Im Rahmen des Jahresthemas „Own Voices“ haben Zeichensetzerin Alexa, Worteweberin Annika, Seitentänzern Michelle-Denise und Satzhüterin Pia per Zufallsprinzip Titel aus einer zuvor erstellten Bücherliste gelesen – und hatten Glück: Jedes dieser Bücher ist lesenswert.

„Im Wasser sind wir schwerelos“

„Im Wasser sind wir schwerelos“ ist das Debüt des in Bremen aufgewachsenen und heute – nach Stationen in London und New York – in Frankreich lebenden Tomasz Jedrowski. Der Roman – auf Englisch verfasst – wurde von der internationalen Presse hoch gelobt. Er erzählt von einer besonderen Liebe, die nicht sein kann. Im Sommer nach dem Examen fährt Ludwik mit seinen Kommiliton:innen zu einem Ernteeinsatz aufs Land. Hier verändern zwei Ereignisse sein Leben: Er liest James Baldwins 1980 in Polen verbotenes „Giovannis Zimmer“ und trifft auf den gutaussehenden Janusz. Die beiden beäugen sich vorsichtig und verlieben sich beim anschließenden Zelten. Sie werden ein Paar – doch das soll ein Geheimnis bleiben. Obwohl es kein Gesetz gegen Homosexualität gibt, wird sie in Polen dennoch nicht toleriert.

Ludwik fühlt sich zunehmend zwischen Liebe, Lust, Scham und der Wut über das System und Janusz Regimetreue zerrissen. So fällt der Roman in zwei Stimmungen: die verliebte Schwerelosigkeit des Sommers und die Verzweiflung des Herbstes. Dass Ludwik letztlich in den USA sein Glück suchen wird, ist im Roman indes von Anfang an klar. Von dort aus blickt er in der Erzählung zurück auf seine Kindheit und Jugend, als er seine Gefühle für andere Jungen entdeckte, und die Beziehung zu Janusz.

Tomasz Jedrowski erzählt aus der Ich-Perspektive von einem Schicksal, das Aufschluss über die Gesellschaft und das politische System im Polen der 80er Jahre gibt und berührt. Der Roman um Liebe und Selbstliebe, Mut und queere Scham ist geschickt komponiert. Ich kann eine klare Leseempfehlung aussprechen! (wa)

Im Wasser sind wir schwerelos. Tomasz Jedrowski. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hoffmann & Campe. 2022.

„Der Bauch des Ozeans“

Salie hat das geschafft, was für viele (junge) Menschen aus ihrem Heimatdorf das ultimative Ziel ist: Die junge Senegalesin lebt und arbeitet in Frankreich. Ihr kleiner Bruder Madické will ebenfalls unbedingt auswandern – trotz aller Warnungen, dass das Leben für Schwarze Auswanderer in Frankreich bei Weitem nicht so traumhaft und reichmachend ist, wie es großspurige Rückkehrer ihnen im Dorf oft weismachen wollen.

Das Debüt der Autorin Fatou Diome trägt autobiografische Züge, denn der Werdegang sowie die Heimatorte der Protagonistin stimmen mit denen von Diome überein. Mit Hilfe der beiden vorrangigen Handlungsorte Niodor, einer kleinen senegalesischen Insel, und Frankreich, zeigt sie die Schwierigkeiten der Interkulturalität auf.

Der Roman umfasst dabei noch viele weitere Themen: Im Vordergrund steht der Fußball, aber auch die Ehe in Afrika, beziehungsweise im Senegal, das Leben von Immigrant:innen in Frankreich, Rassismus oder auch das (senegalesische) Dorfleben, das dortige Verständnis von Gemeinschaft ganz allgemein und nicht zuletzt Familie finden ihren Raum im Buch.

Die Erzählweise ist anschaulich und die Erzählperspektive interessant – allerdings braucht man als Leser:in eventuell einen Moment, durch alles durchzusteigen. Wer ist die Erzählerin, wer Madické und wer Maldini, wie gehören alle Verschachtelungen von Familien und die verschiedenen Erzählzeiten zusammen? Eine große Freude machen die vielen schönen Sätze: Immer wieder tauchen Passagen auf, die sprachlich und bildlich so gelungen sind, dass ich sie mir sogar anmarkern musste: „Sanft perlte ein Tropfen Französisch ins Ohr und benetzte die Zunge. Mmm, wie das schmeckte!“ (sp)

Der Bauch des Ozeans. Fatou Diome. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes. 2005.

„Wovon wir träumen“

Für die Beerdigung der Großmutter reist eine junge Frau nach China. Das Land, das ihre eigene Mutter einst verlassen hat, um in Deutschland ein neues Leben zu führen. Dort angekommen beginnt die junge Frau, sich damit zu beschäftigen, was sie und ihre Mutter trennt. Was sie verbindet. Wovon sie träumen.

Mit „Wovon wir träumen“ hat Lin Hierse ihren ersten autofiktionalen Roman veröffentlicht, der von einer Mutter-Tochter-Beziehung sowie Abgrenzung, Nähe und Zugehörigkeit erzählt. Dabei umfasst sie einen Teil der deutsch-chinesischen Geschichte, der bisher wenig Beachtung in der Literatur gefunden hat. Ob in Deutschland oder in China, irgendwie ist die Protagonistin immer etwas anders als die anderen. Sie hat mit dem zugeschriebenen Exotenstatus zwar kein Problem, aber versucht zu ergründen, wie es ihrer eigenen Mutter damit wohl gehen mag. Dabei beleuchtet sie ausgewählte Momente, die sie mit ihrer chinesischen Verwandtschaft erlebt hat, die sie prägten. Die einzelnen Kapitel behandeln Geschichten, Gedanken und Träume der Protagonistin, die für sich stehen. Sie bauen nicht aufeinander auf, aber ergänzen sich. Die Abschnitte geben tiefe Einblicke in das Seelenleben der jungen Frau, die mit 29 Jahren zwar selbstbewusst und erwachsen ist, sich aber dennoch manchmal danach sehnt, einfach nur Tochter zu sein.

Obwohl gelegentlich chinesische Worte in den Text einfließen, die nicht immer direkt übersetzt werden, ist das Buch leicht verständlich zu lesen. „Wovon wir träumen“ ist ein berührender, leicht schwermütiger Roman, der zum Nachdenken anregt. (bmd)

Wovon wir träumen. Lin Hierse. Piper. 2022.

„Giovannis Zimmer“

„Doch leider können sich die Menschen ihren Ankerplatz, ihre Liebhaber und ihre Freunde ebenso wenig aussuchen wie ihre Eltern. Das Leben gibt sie und nimmt sie, und die Schwierigkeit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen.“ Im Grunde beschreiben diese zwei Sätze den Kern von James Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“. Im Mittelpunkt der Geschichte steht David, der aus der Ich-Perspektive erzählt, wie er in einer Bar Giovanni kennenlernt. Die beiden verlieben sich ineinander und kommen sich in Giovannis Zimmer auch körperlich näher.

David ist hin- und hergerissen zwischen dem, was er für Giovanni empfindet, und den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen, insbesondere weil er eine Verlobte hat. Er ist gefangen in seinen Gedanken, er ekelt sich sogar vor sich selbst, weil er gelernt hat, dass Homosexualität nicht normal ist. Als seine Verlobte von ihrer langen Reise zurückkehrt, steht David vor der großen Frage, mit wem und wie er sein Leben verbringen will – und entscheidet sich schlussendlich nicht nur gegen Giovanni, sondern auch gegen seine tiefsten Gefühle, gegen einen wichtigen Teil seiner Identität. Ohne es zu ahnen, zieht er mit dieser Entscheidung auch Giovanni in einen Abgrund, der ihn das Leben kostet.

„Giovannis Zimmer“ ist ein Roman mit wenig Handlung, dafür mit umso mehr Beschreibungen von Gefühlen und Gedanken. Die Zerrissenheit, die David erlebt, weil er durch die Intimität mit Giovanni ein gesellschaftliches Tabu bricht, ist eine Emotion, die durchgehend in Gedankengängen und Dialogen spürbar ist. Baldwins Roman ist aufrüttelnd und unbequem, weil er gesellschaftliche Normen infrage stellt, die Konsequenzen von Identitätskrisen herauskristallisiert und aufzeigt, was es bedeutet, Angst vor den eigenen Gefühlen zu haben: „Doch selbst wenn ich noch der Liebe fähig war und er sie in meinen Augen gesehen hatte, hätte es nicht geholfen, denn für die jungen Männer, die anzusehen ich verdammt war, war Liebe unendlich viel beängstigender als Lust.“ (za)

Giovannis Zimmer. James Baldwin. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. dtv. 2021.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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